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sauer
I. Sāūer, a.:
1) im Ggstz. zu süß (s. d.): den Geschmacks- (und Geruchs-) Sinn eigth. afficierend, wie es z. B. der Essig thut etc.: Dem Süß entgegen sind gestellt Herb, Bitter, S. (s. II 1) Rückert W. 3, 235 etc.; Etwas schmeckt, riecht s.; Beim Sodbrennen stößt es Einem s. auf etc.; Angenehm, unangenehm, herb, scharf, s.; Saure (Ggstz. süße) Kirschen, Äpfel, Milch, Sahne; S–er Rahm. G. 1, 174 ꝛ.; S–e [in Essig eingelegte] Gurken; S–e Sauce; Etwas s. kochen (auch übertr.: s. einsetzen) etc.; Saures Bier, durch Übergang der Wein- in Essigsäure verdorben. G. 1, 118; Das Bier war s., zog ihm den Mund zusammen. Hebel 3, 174 etc.; S–er Wein etc. Zur Bez. gemischten Geschmacks z. B.: Bitter s. (s. 6); salzig s. etc., vgl. s.-süß; ferner für die versch. Nüancen des S–n Vergleiche, z. B.: S. wie Essig, Schlehen, Citronen etc. und in Zsstzg. (s. d.): Der apfel-s–e Geschmack dieser Frucht; Wein-s. die Kirsche. V. 1, 6 etc.; Citronen-, essig- (s. 6), schlehen-s. etc., woran sich als „Volkssuperlative“ für: sehr s. Zsstzg. schließen wie: Kirr-, kirrkrach-, kitt-, krach-, kren-, salz-, stech-, stechkrach-s., s. Frommann 1, 230; Schm. 3, 278 etc. Hierzu gehören auch die folgenden nur der Übersichtlichkeit halber getrennten (theilw. in einander grei-, fenden) Nummern:
2) Chem.: S–e Salze, s. Sauerstoff-Salz.
3) S–es Gras, Futter, vom Vieh verschmäht, nam. auf Sumpfboden wachsend (vgl.: Gras und Kräuter gar versauren, | saur und bitter Alles wird; | groß und kleines Vieh zusammen | [weder] Trank noch Speise nehmen kann. Spee, Wackern. 2, 298⁷); Saures Gras . . . zum Streuen. G. 26, 165; Die Wiesen . ., von vernachlässigten Brunnadern ersäuft, brachten nur saures Gras hervor. W. Att. 1, 2, 197 etc. und danach auch = s–es Gras bringend: Saurer Boden [versch. 4], der an Naßgallen leidet, sumpfiger. Schm.; Alle .. Wiesen waren s., d. h. sumpfig ohne Abzugskanäle der Überfeuchtigkeit. Gutzkow R. 7, 96; Niebuhr Nachg. 67 etc.
4) S–er Wind, allgm. (s. 6) ein unangenehmer, eig. und übertr., z. B.: Welcher zuvor in ost- und westindischen Schiffahrten mancher saurer Wind unter Augen gangen. Olearius Reis. 38b; Schweinichen 1, 400; 2, 97 etc., vergl.: Da weht’s erst s. unter Augen, wenn ich Dem soll hold sein .., der mir alles Herzleid anlegt. Luther 6, 49 etc. Dann aber auch speciell, nam. bei den Windmüllern: S–er Wind, bei bedecktem Himmel ohne Regen, zumeist Nordwest- und Nordwind, Ggstz.: spröder Wind, trocken bei hellem Himmel, zumeist Nordost- und Ostwind [etwa: die Haut, Lippen spröde machend], vgl. schwzr.: Byse-Nebel, Kinder des kühlen s–n Windes. Gotthelf G. 343; 196; 317 etc.
5) Hüttenw.: S–e, frische oder harte Böden [versch. 2], die dicken Platten halbgefrischten mit Schlacke vermengten Roheisens [die Böden], die, zur Stahlbereitung bestimmt, mehr halbgefrischtes Roheisen und weniger Schlacke enthalten als die zu Stabeisen zu verfrischenden die sog. süßen oder weichen Böden, s. Scheuchenstuel 40 etc., s. II 2b.
6) Ungemach, Mühe, Beschwer verursachend; damit verbunden etc., unangenehm, beschwerlich etc.: Etwas ist, fällt, wird Einem s.; Es sich s. werden lassen; Es oder das Leben etc. Einem s. machen; Es wird Einem s. gemacht, das bischen Leben und Freiheit. G. 9, 8; Daß kein Weg ihr zu s. | wird. 5, 71; Ihm wird das Fechten s., der Schweiß läuft ihm vom Gesicht. 17, 31 etc.; Daß es mich sehr s. ankommen [s. d. 5] würde. Pfeffel Pr. 3, 136; So s. mich der Gang ankommt. Hebel 3, 163; Dies Geständnis kömmt mir etwas s. an. L. 12, 5 etc.; Der Dame ging Das s. ein. Ramler F. 2, 315, sie wollte ungern daran etc.; Dem wird’s in jener Welt s. eingetränkt werden. Stilling 3, 12, er wird dafür schwer zu leiden und zu büßen haben etc.; Mein s. Erworbnes. LPHahn Hohn. 14 etc. und attribut.: In den s–n Apfel (s. d. 1f) beißen müssen; Bei froher Rückkehr aus der s–n Schlacht. B. 163a; Die s–n Tritte versüßen. G. 5, 137; Wenn ein wackrer Mann | mit heißer Stirn von saurer Arbeit kommt. 13, 171; Saure Wochen, frohe Feste! 1, 160; Der König hat unter Allen den s–sten Tag. JKohl Par. 2, 290; Die Handvoll sauren Brots, das wohl verdienet war. Lichtwer 254; Meinen s–n Fleiß. Nicolai 1, 241; Entschließt er sich endlich zu dem lange vermiedenen sauren Schritt. Sch. 984b; 529a; Den sauren Gang. Spindler St. 1, 43; Mit saurem Schweiß erbeuteten sie ihr Leben. Tieck A. 1, 213 etc. und verbunden mit Ggstz. z. B.: Süß und s. ist des Ehestands Natur. G. 1, 55; Er predigte ihnen Süß und S., er stellte ihnen Himmel und Hölle vor. L. 10, 190 etc. (vgl. allgm.: Aus Süß S. und aus S. süß machen. Jes. 5, 20, das Recht verdrehn, aus Schwarz Weiß machen etc.). Hierzu als Verstärkung: Wie bitter s. muß sich Mancher nicht werden lassen. Claudius 4, 129 etc.; S. ist es mir geworden, blut-s. Möser Ph. 1, 73; Bei meinem blutsauren Tagewerk. Hamann 3, 400; FSchlegel Flor. 1, 266; Mathesius Pr. 222 etc., vgl. (veralt.): Blutlichen s. wird’s ihm. Lthr. 103b; Schuppius 835 etc.
7) mürrisch, verdrießlich, unfreundlich etc., sowohl von der Gemüthsstimmung als von der Miene und dem Aussehn, vgl. bitter 2c, verbittert und z. B.: Fälle, wo die wärmste Liebe zur Menschheit in eine Art Abscheu vor den Menschen .. umschlagen kann; aber ich zweifle sehr, ob Dies so leicht ohne Beimischung irgend einer sauren Leidenschaft von der eigennützigen Art geschehe. W. 17, 107 etc., so z. B. prädik.: Wie sie selbst | sind meiner Mutter Diener mürrisch, sau’r | und freudetödtend. Stolberg Sch. 1, 123; Sie ist kopfstarr, launisch, düster, s. V. Sh. 3, 461 etc.; attribut.: Ihrer [Xantippens] sauren Laune ungeachtet. W. 23, 221; Jene . saure Süßelei, gezierte Roheit. Heine Reis. 4, 172 etc. und in Bezug aufs Aussehn: Ein s. Gesicht machen. Gotthelf Sch. 261; L. Samps.. 1, 3; Rachel 1, 22 etc.; Der Richter gab ihm ein herbes und saures Gesicht. Olearius Baumg. 51b; Ros. 13betc.; S–e Mienen machen. Gotthelf G. 258; EKleist 1, 39 etc.; S–e Züge. Göckingk Lieb. 33 ꝛc,; Daß man signa rancoris d. i. Zeichen und saure ernste Gebärde ablege gegen den Feind. Luther 1, 191a; Es setzte allemal saure Augen, wenn etc. Gotthelf G. 43 etc. und bei Zeitw.: Er hätte nicht einmal s. dazu gesehen. 1. Sam. 3, 13; Matth. 6, 16 etc.; Ob sie gleich der Welt s. sehen, so sollen sie uns doch nicht s. sehen, sondern freundlich zulachen. Luther 5, 535b; Wenn die Sonne, Mond und der ganze Himmel s. und finster siehet. 530b; 6, 169a; 317a etc.; Prutz W. 53; So thust du s. sehen .., | als ob du Essig habst getrunken. HSachs G. 1, 104; Dessen Tugend .. etwas s. sah [sich mürrisch äußerte]. Stolberg Sch. 1, 460; Weil ihr lachend Aug nicht s. sehen kann. W. 10, 50; Att. 3, 1, 75 etc.; Einen oder Etwas s. ansehen. 1. Sam. 18, 9; Luther 5, 76b; Stilling 2, 185 etc.; Düster und s. sah es aus in Resle’s Gemüth. Gotthelf G. 196 etc. Dazu (s. 1): Dieser, ein alter Mann mit essig-s–n Mienen ward darauf plötzlich freundlich gegen mich. Börne 2, 232; Tieck A. 1, 266.
Anm. Ahd., mhd. sûr, viell. stammvrwdt. mit siure, ausfahrende Hautschärfe; Krätze; Krätzmilbe (s. Schm. 3, 279: Das Seurlein, Hitzblätterchen auch als Bez. des Geringsten, z. B.: Von welchen doch nicht ein Säurlein vergessen ist. Fischart B. 174a etc., s. Brem. Wört. 4, 1103), also: das für den Geschmack Scharfe, wie denn bair. s. auch = salzig ist. Schm. 3, 278, doch vgl. Graff 6, 272; Wackern. Gl. 511 und mundartl. Bedd. Stalder 2, 303. Kompar. zuw. mit Uml.: säurer. Döbel 3, 183a; Gellert 3, 397; L. 2, 347; Zinkgräf 2, 30; 35 (neben: Den sauresten Wein. ebd.). Auch substant., s. II 1 und 2, und plattd. verkl.: Sührken, dat rohde [das rothe Säurchen] = Rumex acetosella (Boll Fl. 40) etc.
Zsstzg. s. 1; 6 u. 7; ferner über Poll-s., Poll 1 und sehren, Anm.; außerdem aber Kochk.: weiß-, schwarz-s. (s. II 1) und Chem., entsprechend den Zsstzg. von Säure (s. d.) zur Bez. der in einer Verbindung, nam. in einem Salz (s. d. 2) enthaltnen Säure z. B.: Das ameisensaure Kupferoxyd. Mitscherlich 1, 441, die Verbind. von Kupferoryd als Basis mit Ameisensäure zu einem Salz; Das äpfelsaure Bleioxyd. 446; Blausaures Eisenoxydulkali. Karmarsch 1, 179; Der holzsaure Kalk durch schwefelsaures Natron zersetzt. 732 etc.; Die Ausdrücke: einfach-, doppelt-, dreifach-kiesel-s. etc. bed., daß die Kieselerde eines gewissen Silikats ebensoviel, doppelt soviel oder 3mal soviel etc. Sauerstoff enthält, wie der andre Bestandtheil oder die Basis. Burmeister Gsch. 151; Schwefel-s–e (Mitscherlich 1, 368), unterschwefel-s–e (376), schweflicht-s–e (374), unterschweflicht-s–e (379) Salze etc. Scherzh. Anwendung: Zwei große Wirthschaft nebst einer „kohlen-s–n“ und einer Cigarrenbude. Gartenl. 9, 524, eine Bude, in der kohlen-s–e Wasser [s. Säuerling 2] verkauft werden, wie auch: Kohlen-s–e Jungfrauen, die Schenkmädchen etc.