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wahr
I. Wāhr, a.:
–(e)st: Das, was es scheint oder, was es sein soll, wirklich seind. Wir ordnen die leicht zu mehrenden Belege, mit Rücksicht auf die Übersichtlichkeit, nam. nach grammat. Beziehungen (vgl. wahrhaft): 1) als attrib. Ew.:
a) indem der Ton auf dem daneben stehnden Hw. ruht, fast pleonastisch, nur hervorhebend, daß der gewählte Ausdruck freilich oft genug nur als Hyperbel mit vollem Recht seine Anwendung finde, ganz der Wirklichkeit entspreche, z. B.: Er brachte ein w–es Lügengewebe vor; Ein Sturm, ja ein w–er Orkan von Schimpfreden; Ein w–es Glück, daß ich noch zur rechten Zeit kam; Das Buch enthält einen w–en Schatz von Geschichten; Der Enthusiasmus ist eine w–e ansteckende Krankheit der Seele. L. 11, 79; Ein w–er Lianenwald. IP. 7, VIII; Ein w–er Reichthum an lichtbraunen Haaren umfloß .. das Köpfchen. FSchlegel Fl. 1, 22; Vastola .. blieb mitten in den Flammen | nach w–er Salamanderart | stets unversengt. W. 12, 5 etc.
b) mit betontem Ew., im Ggstz. zu dem nur Scheinbaren, Falschen, der echten Wesenheit Ermangelnden etc., z. B.: Eine w–e Geschichte, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt (Ggstz. eine erdichtete; ein Märchen etc.); Es ist kein w–es Wort (s. d.) daran, keine w–e Silbe (s. d.) etc.; W–e Zeit, w–er Mittag, best. durch die w–e“ (am Himmel sichtbare) Sonne (s. als Ggstz. mittel I2a); Der w–e Jakob (s. d.); Das w–e Glück, der w–e Reichthum (versch. a) ist die Zufriedenheit; Die Scheinwissenschaft von der w–en Wissenschaft unterscheiden. JAEberhard Ap. 2, 433; Freuet euch des w–en Scheins,| euch des ernsten Spieles. G. 2, 294; Den scherzhaften Abschied in einen w–en zu verwandeln. 22, 413; Wenn auch einen unvollständigen, doch einen ganz klaren und w–en Begriff. 23, 114; Ein w–er Kunstfreund. 27, 185 etc.; Die .. der Dinge w–en Werth und nicht den Wahn betrachtet. Haller 160; Sch. 100a; Daß ich mein w–es Herz vor ihm verberge; | ein falsches hab ich niemals ihm geheuchelt. 334b; W–es Unglück bringt der falsche Wahn. 356b; Jetzt hgb ich meinen w–en Ort gefunden. 468b; Bei Gott! bei dem fürchterlich W–en! 209a; Du glänzend Nichts! du Rauch der Ehre, | dich kauf ich nicht mit w–em Weh. Uz 2, 44; Das bescheidene w–e Verdienst vom Scheinverdienst .. zu unterscheiden. W. 32, 109 etc., s. c.
c) (s. b) auch mit Steigrung, selten des Mißlauts wegen, s. Sanders Orth. 95 im Komparat.: Ein w–erer Freund etc., dagegen z. B.: Daß er ihnen die w–ste Wahrheit sage. Fichte N. 26; Mit der Stimme der w–esten Theilnehmung. G. 14, 85; 32, 126; Den besten w–esten Ton aller Geschichte. H. R. 9, 39; Den allervollständigsten, richtigsten und w–esten Begriff. Mendelssohn Morg. 249 (vgl.: Der Begriff würde . . der w–este sein. 242); Sowohl bei der w–esten Vorstellung .. als bei der täuschendsten. W. 29, 142; Luc. 5, 81 etc. 2) (s. 1b) substantiviert, als sächl. Hw.:
a) mit Flexion: Es ist etwas, nichts W–es an der Sache; Das W–e von [an] der Sache ist (W. 14, 16); scheint (32, 409), daß etc.; Um das W–e von der Sache zu erforschen. Luc. 3, 265 etc.; Daß Ihnen alle theatralischen Darstellungen keineswegs w. scheinen (s. 3b), daß sie vielmehr nur einen Schein des W–en haben. G. 30, 394; Ein Gewebe von Falschem und W–em etc.
b) ohne Flexion: Sei froh, daß der Wunsch kein W. ist. Auerbach Barf. 111, nicht erfüllt wird (s. 3d) und bes.: Bei welchem freies W., der Freundschaft Seele, wohnt. Logau (L. 5, 235; 301) = „freie Wahrheit“; War zw. Gut und Übel | und W. und Falsch [s. d. II] die Scheidewand gefallen? Sch. 307a; W. 27, 164 etc., s. c.
c) (s. b) auch: Er redet, spricht, sagt w. [oder: die Wahrheit] wo freilich gw. w. als Adv. gefasst wird —, vgl. nam. w.-sagen 1; 2. 3) neben Zeitw., z. B. 2c; 5; bes. aber als Prädik., z.B.:
a) Jemand ist w., so daß die Art, wie er sich äußert, benimmt, zeigt, vollkommen derjenigen, wie er ist, entspricht, darin kein Widerspruch waltet (vgl. als Ggstz.: Lügner etc. ferner z. B. aufrichtig, offen etc.), auch z. B.: Wenn einstarker Charakter, um sich selber getreu zu bleiben, treulos gegen die Welt wird und, um innerlich w. zu bleiben, das Wirkliche für eine Lüge erklärt. G. 39, 295 etc.; auch mit abhäng. Präpos.: Ich will auch in dieser Sache ganz w. gegen dich sein etc.; Der Künstler soll nicht so w., so gewissenhaft gegen die Natur, er soll gewissenhaft gegen die Kunst sein. G. 29, 413 etc.; Du selber sollst uns sagen, was du vorhast; | denn du bist immer w. mit [gegen] uns gewesen. Sch. 381b etc.; Ich kann nicht w. sein mit der Zunge, mit | dem Herzen falsch. 359b etc.; Sei w. zu jeder Zeit, w. in der Gegenwart, | für die Vergangenheit und auf die künft’ge Fahrt etc. Rückert W. 3, 219.
b) Etwas ist, scheint w.; erscheint, ergiebt sich als w.; ich finde es w.; ich erkenne es als wahr (an), ich halte es für w. etc.; Das muß (s. d. 2a) w. sein; Das ist leider nur zu w.; Ein Faktum unsers Lebens gilt, nicht insofern es w. ist, sondern insofern es Etwas zu bedeuten hatte. Eckermann G. 2, 335; Die Anekdoten sind alle nicht w., wenigstens nicht richtig. Ense T. 1, 56; Ich weiß, daß w. ist, was ich sage, wenn es auch niemals wirklich werden sollte. Fichte 8, XV; Er solle Dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als w. erscheinen konnte. G. 20, 56; „Nicht w.? (s. f) wenn Sie ins Theater gehen, so erwarten Sie nicht, daß Alles, was Sie drinnen sehen werden, w. und wirklich sein soll?“ Nein, ich verlange aber, daß mir wenigstens Alles w. und wirklich scheinen solle. 30, 393; Gotter Sch. 160; L. 11, 50; Ein Fieberwahn | bringt mir als w. und wirklich vor den Sinn, | was etc. Sch. 431a; 100a; Was an Allem Dem w. ist, wird die Zeit lehren. Zelter 1, 87 etc., s. c; f.
c) (s. b, vgl. zwar; wenn-, ob-gleich, s. gleich 3c) mit nachfolgendem aber (doch etc.), z. B.: Es ist w., Sueton hat keinen schönen Stil, aber um so weniger verhüllen glänzende Farben den Gliederbau der Geschichte. Börne 2, 176; Hübsch ist sie, Das ist w. . ., aber ich wüßte doch nicht, daß sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht. G. 15, 16 etc.
d) Etwas wird w., geht in Erfüllung (s. 2b; veraltend). Brant N. 26³; 7; ¹² etc.; Es w. machen. (vgl. Schm. 4, 123); So mancherlei Naturerscheinungen haben sein Vor- ausgesagtes fast buchstäblich w. gemacht. G. 39, 82 etc.; aber auch: Etwas w. machen, die Wahrheit desselben beweisen: So will ich’s einem groben Ochsentreiber mit einem Exempel klar und „war“ machen [erklären und bewähren]. Luther 1, 128a; Schm. etc.; auch (vgl. b); Die Farbe allein macht das Kunstwerk w., nähert es der Wirklichkeit. G. 29, 422 etc.
e) Etwas nicht w. [vgl.: Wort] haben wollen, es nicht gelten lassen, nicht zugestehen wollen, z. B.: Sie will nun Nichts mehr w. haben, was sonst zw. ihnen gegolten. Gutzkow R. 5, 171; Ich war denn doch erschöpfter, als ich es w. haben wollte. Roquette NE. 354.
f) (s. b) mit Wegfall der Kopula, z. B. als Ausruf der Zustimmung: Sehr w.! etc.; Ach, allzu w.! W. 10, 64 etc.; ferner fragend: Nicht (s. d. 2) w.?, um anzuzeigen, daß man eine zustimmende, bejahende Antwort erwartet = So verhält es sich doch wohl? etc., s. b: G. 30, 393 etc. 4) In Betheurungen, Schwüren etc.:
a) So w. ich lebe; ein Gott lebt; wir einen Vater im Himmel haben; ich hier stehe; 2mal 2 vier ist! etc.; So w. soll ich gesund sein; selig werden etc., wie Das geschieht etc.
b) ellipt.: W. und wahrhaftig! z. B.: Jffland 5, 1, 5; Daß das Wappen .. w. und wahrhastig das Wappen der Schmitz’schen Familie sei. Spielhagen Hoh. 3, 128.
c) ellipt.: Für-w. (vgl. b und wahrlich, traun etc.). Jes. 45, 15; Luk. 23, 47; Tob. 3, 22; Unverträglich für-w. ist der Glückliche. G. 5, 49; 30, 395; Gotter Sch. 141; Für-w., ich muß dich glücklich schätzen. Sch. 57a etc.; vralt.: „Vorwar“, ich keinen Fleiß nicht spar. Waldis (Wackern. 2, 53²³) etc. 5) W.-nehmen, s. d. und ge-w., wofür vralt.: Wie mancher Mann in seinem Orden | mit Schaden Das ist wahr geworden. Moscherosch (Raumer Gsch. Eur. 3, 612).
Anm. Ahd., mhd. wär, lat. verus. Dazu: wahrhaft, Wahrheit, wahrlich (ahd., mhd. wârhaft, wârheit, warlich), bewähren (ahd. piwâran, mhd. be–, gewcren) etc. Über die verwandten Wörter s. Gtaff 1, 906, vgl. Benecke 3, 505 und bes. Schm. 4, 122, der als zu Grunde liegend wesen (s. d.) vermuthet (Jmpf. was, w ar). Zumselben Stamm stellt er (als mehrfach ineinandergreifend):
1) ahd. wara, mhd. war(a), f.; war f., m., noch erhalten in wahrnehmen (s. d.), mit gewahr, ahd. gawar, mhd. gewar (dazu: Gewahrsam a. und f. (n.), mhd. gewarsam, a.; gewarsame, f.); wahren, be-, gewahren, ahd. warôn, piwarón, mhd. warn, be–, gewarn. Daran reiht sich: warnen, ahd. warnón, mhd. warnen etc.; warten, ahd. wartên, mhd. warten, mit Wart, m., nam. in Zsstzg. z. B. goth. dauravards, Thorwart; ahd., mhd. wart; Warte, f.; ahd. warta, mhd. warta etc.
2) goth. vasjan, ahd.werian, mhd. weren, bekleiden (s. goth. vasti, lat. vestis, vgl. auch Westerhemde etc.); rechtskrästig in Besitz setzen (s. investieren), dazu ahd. gawerî, mhd. (ge)wer, (ge)werschaft, Investitur, wie noch in der ältern Rechtsspr.: Gewehr, rechtlicher Besitz (niederd. were, waere, s. Brem. W. 5, 187 ff., auch = Wohnung, Hofstelle, Hab und Gut etc., s. nam. Hof- Wehre, -Gewehr, vgl. 3), dazu: Ein-, aus- und häufiger: entwehren (s. d.), rechtskräftig in den —, aus dem Besitz eines Guts setzen.
3) goth. varjan, ahd. werjan, mhd. wern, wehren; dazu: Wehr, f., ahd. werî, mhd. wer; Gewehr, ahd., mhd. (ge)wer etc.
4) ahd. wërên, mhd. wërn, währen (dauern), dazu (lang-)wierig etc., ahd. wirîg, mhd. wirec etc., wohl Eins mit ahd. wërên, mhd. (ge)wërn, gewähren mit (ge)wër, f. = Gewährung, Leistung, Garantie (Gewähr) etc.; m. = der Gewährende; Bürge (Gewährsmann, Garant) etc. Zstzg. z. B.: Für-: s. [4c]. Ge-: s. [5 und Anm. 1], z. B.:
1) ugw.: Etwas g. nehmen statt wahrnehmen (s. d. 1). Sch. 699a etc.
2) gw. nur: G. werden, durch die Sinne zum Bewusstsein von Etwas kommen, bes. durchs Gesicht (vgl. erblicken; gewahren; wahrnehmen):
a) mit Genit. (vgl. ansichtig): Du wirst nicht „gewar“ des Balken in deinem Auge. Matth. 7, 3; 1. Mos. 42, 27; 1. Kön. 8, 38; 1. Chr. 22, 21; Spr. 7, 7; Dan. 5, 5; Deß g. werden. Jes. 23, 1; Freytag B. 2, 118; G. werdend der beschränkten Gegenwart. G. 34, 337; Monatbl. 2, 225b; W. 1, 159; 4, 62; 16, 95; 18, 9; 20, 56 etc.; selten mit ausgelaßnem Zeitw.: Der Vogt, noch eines Pfeils g. [werdend], | fragt etc. Lavater (Wackern. 2, 832⁵).
b) mit Acc. statt Genit., nicht bloß (s. Das 4; Es 8): Ehe sie es „gewar“ werden. Hiob 4, 20; 9, 11 etc.; Das werd ich nun auch g. Sch. 151a etc., sondern auch mit best. Obj. heute überwiegend: Jeder bestrebte sich, die entferntesten Ggstde g. zu werden, ja deutlich zu unterscheiden. G. 21, 247; 19, 387; Ein paar poetische Stoffe bin ich schon g. geworden. 26, 30; Weil ich in diesem Kinde den ganzen Charakter ihrer Mutter g. werde. 15, 14; Unter diesem Reden bin ich mich selbst erst g. [ge-]worden. 144, zum Bewusstsein meiner selbst gekommen etc.; Die Zeit . ., wo das Dichtergenie sich selbst g. würde. 21, 226; 22, 153; 29, 325; 33, 169 u. o.; (ugw.: Begebenheiten, die, wenn Ihr sie nur g. werdet [erfahrt, hört], Euch in Erstaunen setzen sollen. Tieck DQ. 1, 342); auch: Einen Etwas g. werden lassen (s. d. 2;
3) und daneben zuw. noch: Das Medicinische reizte mich, weil es mir die Natur nach allen Seiten, wo nicht aufschloß, doch g. werden ließ. G. 22, 3 etc.; zuw. auch mit einem zum Obj. tretenden Prädik.: Kaum ward .. Hadiar | Munuzen hungrig und verirrt g. Nicolai 6, 225 etc. c) mit abhäng. daß, z. B. 1. Mos. 3, 7; 26, 8; 2, 2, 11 etc.; Der Zuhörer wäre g. geworden, daß etc. G. 2, 362; 15, 13; 22, 187 etc. d) substant. Infin.: Ein sinnlich gutes, aber doch nur gemeines G.-Werden, das uns von der tiefern Einsicht . . ablenkt. 39, 12; Durch eignes Irren und Halb- G.-Werden. 24, 143 etc. Grúnd-: (s. Grund 9) Der g–en Innigkeit. Ense Gal. 1, 173; Das G–e. G. 3, 350. Hálb-: (s. halb 7) 29, 321; 40, 7 ꝛc- Kúnst-: wahr nach dem Begriff der Kunst, ihren Fordrungen entsprechend (vgl. un-w. Tieck): Daß das K–e und das Natur-W–e völlig verschieden sei. 30, 397; 22, 49. Lêbens-: von einer ganz dem Leben entsprechenden Wahrheit (vgl. natur-w.): Die Scene ist so durchaus l. Guhl 2, 218; Eine l–e Zeichnung. Scherr Bl. 1, 168. Natūr-: s. lebens-w., vgl. kunst-w.: Wie heißt es dagegen n. bei Hebel etc.! Oppenheim 1, 306; In Lessing’s n–en Gestalten. 9, 144 etc., vgl.: Das Natürlich-W–e. G. 22, 409. Spīēgel-: wie das Spiegelbild mit dem Urbild übereinstimmend. Ense D. 1, 396. Über-: allzuwahr: „Alles wahr?“ Wahr, ü. Ifland 3, 1, 193. Un-: der Wahrheit ermangelnd, nicht wahr: U–e Behauptungen, Sätze; Ihnen so etwas U–es und Unwahrscheinliches aufzubinden. G. 30, 393; Einen u–en Ton [s. d. 8 der Farbe]. 23, 305; Das U–e, sowohl Irrthum als Sinnentäuschung. Mendelssohn Morg. 243; Sie [die Schönheit] einer ganz u–en Wahrheit aufzuopfern. Tieck DBl. 2, 219 (vgl. kunst-w.) etc., auch z. B.: In lebens- u–er Dichtkunst. Gutzkow R. 6, 212.