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reif
I. Rēīf, a.:
1) in der Entwicklung zur Vollendung, zum Abschluß für die Brauchbarkeit gediehn:
a) eig. und zunächst von Früchten und Samen, bes. in Bezug auf die Eßbarkeit: Wenn der Samen r. ist, fällt die Furcht ab; Das Getreide, der Weizen, Rocken etc., die Frucht, das Obst, der Apfel, die Birne, die Beere, die Traube, ist r. etc.; Schlaget die Sichel an, denn die Ernte ist r. Joel 3, 18 etc.; R. heißt ein Obst, wenn es vergoren hat, mürb geworden ist auf dem Lager und man dasselbe in seiner völligen Güte genießen kann; zeitig ist ein jedes Obst, das so lange am Baum gehangen, bis daß es ausgewachsen ist und abfallen will. Winteräpfel, im Oktober gepflückt, sind zwar zeitig, werden aber erst nach drei bis sechs Wochen im Keller oder in der Obstkammer r. und eßbar. Nemnich 3, 461 etc. Dann auch von andern Dingen und Wesen, theils mit näher bestimmendem Komplement (b e), theils ohne solches (f), z. B.:
b) gew. mit ,,zu“: Bin ich schon zum Galgen r. Cham. 3, 2 ff.; Zum Tode war ich r. G. 35, 271; Daß alle giftigen Schlangen lebendige, d. h. zum Ausschlüpfen r–e Jungen gebären. Linck Schl. 28; R. zum Grab. Sch. 4a; Einen Jüngling, noch nicht r. zum Sarge, | in des Lebens Mai gepflückt. 6a; Ehe zu einem kühnen Schritte die Umstände r. .. waren. 919b etc., Zur Unversität r. Spielhagen Probl. 1, 237 etc.
c) selten (vgl. b und d): Die Zeit r. an großen Dingen. Börne 3, 212, nicht bloß so weit vorgeschritten und entwickelt, daß große Dinge eintreten können, sondern auch, daß sie wirklich eintreten.
d) mit „für“, z. B.: „Ein Volk ist noch nicht r. für die Freiheit.“ Das ist gerade, wie, wenn man sagte, eine Pflanze sei noch nicht r. für die Sonne, ein Mensch nicht r. für die Luft. Blätt. f. fr. Volksth. 23b; Wahnsinnig wär’ ich, für das Tollhaus r. Körner; Welch . . | längst für Galgen und Rad und Sack und Holzstoß | r. gewordnes Weib. V. (Wackern. 2, 903 ¹⁰) etc.
e) statt d in der gehobnen Spr. auch mit Dat.: Als einst der Sichel r. der Weizen stand. Cham. 4, 76; Durch offne Rache, harte Strafen | macht er sie nur der Freiheit r. G. 10, 230; Es find noch mehr unter euch, die meinem Grimme r. find. Sch. 121a; Das Jahrhundert | ist meinem Jdeal nicht r. Ich lebe | ein Bürger derer, welche kommen werden [der künftigen Jahrhunderte]. 278a etc.
f) o. Komplem., z. B. (s. a): Die Frucht im Mutterleibe, der Fötus ist r. [zur Geburt]; Die Häute in der Grube sind r., vergl. gar 1b; Das Salz ist r. [zur Versendung], vollkommen trocken; Ein Geschwür ist r. [zum Aufbrechen oder Aufschneiden]; Die Sache ist noch nicht r. [zur Ausführung]; Ein Jüngling, ein Mädchen ist r., die Entwicklungsjahre sind zu Ende, nam. in Bezug auf die Pubertät; Ein r–er Mann, dessen Entwicklung zum Manne (nam. geistig) zum vollen Abschluß gediehn ist (s. auch 2); Ein r–er Verstand, Geist etc.; Ehe eure Dornen r. werden. Ps. 58, 10; Nach r–er [reiflicher] Prüfung. Ense Denkw. 5, 118; Wenn das Holz r. und der ausgestiegene Saft feste im Holz wird. Döbel 3, 36a; Einen Körper . ., weder jung, noch alt, aber r., in voller Mannheit. Forster Jt. 1, 222; Die Menschen erziehen, zu r–en Wesen bilden. Br. 2, 76; Krähen, ehe noch das Ei r. ist [zum Legen]. 163 (Heyne); Unsere Zeit, die Nichts r. werden lässt. G. 3, 154; Jede Zucht und Kunst beginnt zu früh, wo die Natur des Menschen noch nicht r. geworden ist. Hölderlin H. 1, 139; Seine Entschlüsse r. denken. Immermann M. 4, 71; So werde ich von der Faust weg schreiben und meine Gedanken unter der Feder r. werden lassen. L. 12, 54; 61; Wenn nur fein | die junge Tapferkeit dem r–en Rathe | des Alters folgen will. Nath. 4, 2; Deutschland ist r. [zur Strafe] und einer starken Strafe werth. Luther 6, 163b; Wir sind wohl zu scheiden, wie ein r–er Unflath und ein weit Kunstloch [Arschloch], wodurch er gehet. SW. 61, 397; Voll, wie die r–e Rose blüht. Mohnike Fr. 30; Nach zwei Jahren sind die Schweine r., nach sieben Jahren aber zur Zucht nicht mehr tauglich. Oken 7, 1133; Die Natur . . schafft | sie Beide [Kind und Knospe] voll und r. zu Mann und Rose. Schefer (Wackern. 2, 1763 ¹⁴) etc.
2) (s. 1) zuw. faktitiv: r. machend, nam.: Das r–e Alter; Wenn Söhn’ in r–em Alter und Väter auf der Neige. V. Sh. 3, 163; In r–ern Jahren etc., seltner (in gehobner Spr.): Daß die liegenden Schollen | ganz der staubige Sommer mit r–en Sonnen durchkoche. V. Ländl. 1, 7 (v. 66), vergl.: Wann die aufgehende Plejade mit r–en Gluthen das Jahr entflammt. 69 etc.
Anm. Ahd. rîfi (s. Graff 3, 497), mhd. rife, ags. ripe (vgl. ripan, ernten; rip Garbe). Dazu: Reife, ahd. rifî; reifen, rifan etc., mhd. rîfen.
Zsstzg. leicht zu mehren nach den folg. Bsp.: Alter-: durch das Alter reif; in reifem Alter [s. 2]: Die a–en Männer. Börne Frzfr. 42.
Bréch-: zum Abbrechen reif, von Obst etc., pflück-r., ähnl., fall-r.
Ernte-: reif zur Ernte, s. schnitt-r.: Nicht bloß das Schlechte schießt in Ähren, das Gute selbst ist e. Schwab 122; 2, 70 etc.
Fáll-: s. brech-, tod- und sturz-r.
Fāūl-: über-r. Grimm.
Fláschen-: reif, auf Flaschen gefüllt (gezogen) zu werden: Gut gehaltne, f–e Weine.
Frǖh-: vor der gew. Zeit zur Reife gedeihend (Ggstz. spät-r.): F–e Kartoffeln, Früchte, Birnen; Mit beispiellos f–er Verstandesschärfe . ., Pitt. Scherr Bl. 1, 210 etc.; F–e Wunderkinder; In dem Lande des Teut singt mancher Gesell f–e Tragödien ab schon. Platen 4, 109, sich dem Begriff des Un-R–en nähernd, vergl. vor-r. etc.; Waiblinger war eine in jeder Hinsicht f–e, ja über-f–e Natur. Schwegler (47) 260.
Gebūrt-: zur Geburt reif: G–e Eier. Linck Schl. 87.
Gēīstes-: geistig reif; reifen Geistes. Gutzkow R. 5, 68, ähnlich: Verstandes-r.
Gélb-: z. B. von der Gerste. Nemnich; ferner vom Flachs, wenn unten die Stengel gelb werden, im Ggstz. zur spätern Vollreife des Samens. Hálb-: als Ggstz. zu: ganz reif, voll-r., z. B.: Eure Einfälle verfaulen, ehe sie h. sind, und Das ist die rechte Tugend einer Mispel. Shakspeare 5, 167 etc.
Lāger-: auf dem Lager reif geworden: L–es Obst, vgl. sonnen-r.
Nōth-: in verkümmertem Stande, ohne ausgewachsen zu sein, reif geworden (vom Getreide): Mit hungernden n–en Halmen Buchweizens. Masius (Körner Sch. 3, 324); Die Wintersaat auf dem Sandfeld | nickt mit schmächtigen Ähren, wie n. V. 2, 110.
Pflück-: s. brech-r.
Schnítt-: s. ernte-r.: Die sch–en Feldbreiten. Auerbach D. 4, 328.
Sónnen-: durch die Sonne gereift: Schwellen der Palmen s–e Trauben. WHumboldt 1, 374.
Spǟt-: s. den Ggstz. früh-r.
Stúrz-: zum Sturz reif: Fallen st–er Felsen. Tschudi Th. 468.
Tōd-: zum Tode reif, danach auch von Getreide, Früchten etc.: zum Aus- oder Abfallen reif: Fest und doch leicht, damit kein Korn aus den t–en Ähren fiel, aufrecht in die Stoppeln gestellt. Goltz 3, 113.
Über-: allzureif; reifer als nöthig und dienlich (vergl. faul-r.): Das sind von den ü–en Früchten, die von dem Baume der bösen Erkenntnis so reichlich abfallen; Das sind von den faulen Redensarten etc. Börne 2, 135; Ü. ist das Korn schon. G. 5, 5; Die Begierde, dieses Land zu sehen war ü. 23, 147; 10, 248; Für die Polizei wie eine Mispel ü. Gutzkow Lenz 87; Immermann M. 3, 116; Ich bin ü. zur Arbeit. Hölderlin H. 2, 24; Musäus M. 5, 110; Schlegel Sh. 8, 18 etc.
Un-: nicht zur Reife gediehn, eig. und übrtr.: U–es Getreide, Obst etc.; Schämen sollte sie sich, so ein u–es Ding, die Mannsleute anzulocken! Benedix 10, 13; Eure Hand | bricht un-r. nie die goldnen Himmelsfrüchte etc. G. 13, 46; Sache, mit der ich mich erst seit zwei Jahren beschäftigte und die also noch in einer frischen u–en Gärung begriffen war. 25, 27; Nichts ist unzulänglicher als ein reifes Urtheil, von einem u–en Geiste aufgenommen. 22, 45; Ein u–es Gewächs der Menschheit. H. Ph. 4, 57; Als eine u–e oder unzeitige, verworfene [s. d.] Frucht von der Mutter kommen. Luther 6, 219a; U–e Sudeleien. Reiske (L. 13, 448); Heinrich hinterließ seine Gemahlin nebst vier u–en Söhnen. Sch. 1046a; Wenn du noch zu un-r. bist, den Werth meiner Fürsorge für dich zu schätzen. W. 1, 72 etc.
Verstándes-: s. geistes-r.
Vóll-: s. Ggstz. halb-r.
Vōr-: vorzeitig reif und eben deßhalb nicht zur vollen Entwicklung und Vollreife gediehn, vergl. früh-r.; Wo das Samenkorn nicht in eine schnelle, v–e Blüthe aufschießet und verdorret etc. H. (Wackern. 4, 441²⁰).
Wíssenschafts-: z. B. reif für die Wissenschaft: Stubengelehrte die nur den ausgestopften Vogel für w. halten. Auerbach (Nat. Zeit. 15, 232).