Vernunft
Vernúnft, f.; 0[Anm.]; -:
1) das Denkvermögen des Geistes u. (s. 2) das diesem Gemäße, Entsprechende, — in schärferer Auffassung geschieden von dem Verstand (s. auch Urtheilskraft), s. nam.:
a) Das Vermögen, das Mögliche deutlich vorzustellen ist der Verstand. .. Das Vermögen, den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen heißet V. 3, 1, 1035 Z. 2 u. 31); SW. 1, 72; Verstand ist Denken des Allgemeinen und des Besonderen in ihrer Trennung und Beziehung und Dieses ist nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne den ganzen Namenvorrath der Sprache. Der Verstand weiß, das so Getrennte bloß zu beziehen und nicht, das Unterschiedne in der innern und höchsten Einheit zu fassen. Dies thut die V.; V. ist aber nicht ohne Verstand möglich, denn nur im Unterschiedenen ist die Einheit herzustellen. Ästh. 2, 110; V. ist das Vermögen, sich der Gründe für die Erscheinungen bewusst werden; über die Ursachen aller Dinge nachdenken und die nicht gegebenen Ursachen aus den gegebenen Erscheinungen ableiten zu können. Den verschiedenen Grad der Schärfe, womit Das geschieht, nennen wir Verstand. gB. 1, 277 etc., s. nam. noch H. 1, 147 ff. —
b) wir fügen zunächst Stellen bei, in denen beide Wörter untersch. neben einander kommen: Ich habe nicht so viel Verstand [Scharfsinn] als mein Herr; aber mehr gesunde V. [Urtheil über Das, was recht ist etc.]. 1, 93; Begriff ist Summe, Jdee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehn wird Verstand, dieses zu erfassen V. erfordert. 3, 324; Ein dramatisches Werk zu verfassen, dazu gehört Genie. Am Ende soll die Empfindung, in der Mitte die V., am Anfang der Verstand vorwalten. 247; 5, 7; Seelenleiden zu heilen vermag der Verstand Nichts, die V. Wenig, die Zeit Viel. 18, 343; 172; 25, 79; Als man die teleologische Erklärungsart verbannte, nahm man der Natur den Verstand; man hatte den Muth nicht, ihr V. zuzuschreiben und sie blieb zuletzt geistlos liegen. 39, 187; Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen | die alternde V. erfand, | lag im Symbol des Schönen und des Großen | woraus geoffenbart dem kindischen Verstand. 22b; Vielmehr sind es gerade solche Fälle, wo unser Verstand nicht auf Seite der handelnden Person ist, aus welchen man erkennt, wie sehr wir Pflichtmäßigkeit über Zweckmäßigkeit, Einstimmung mit der V. [mit dem Urtheil darüber, was unserm innern Wesen nach recht ist] über die Einstimmung mit dem Verstand [mit dem Urtheil darüber, was der Erfahrung gemäß klug ist] erheben. 1137a; Ein Gegenstand, der durch die Größe einer Jdee jede Größe der Erfahrung vernichtet und der, was er auch in der Beurtheilung des Verstandes verlieren mag, in der Be- urtheilung der V. wieder in reichstem Maße gewinnt. 1191b; 59 etc. —
c) in andern Stellen, wo nicht beide Wörter neben einanderstehn, grenzt V. oft nahe an Verstand, wie sie denn selbst zuw. (s. Thieren zugeschrieben wird, während andrerseits ihr in der Offenbarung (s. d.) etwas Ubermenschliches entgegengestellt wird, das der Mensch aus sich selbst zu entwickeln nicht im Stande wäre (s. — zuw. auch personif. Ein Weib guter V. 1. 25, 3; Ein Kluger thut Alles mit V. 13, 16; 19, 2; 20, 18; Ich kam wider zur V. 4, 31 etc.; Meine träumende Phantasie hat meine wachende V. beschämt. 1, 354; Aus diesem die V. verdunkelnden Nebel. Br. 1, 32; In einer gewissen Klemme zwischen V. und Offenbarung. Lit. 5, 318; Wenn die V. nach dem gemeinen deutschen Ausdruck manchmal still stehen kann. 19, 358; Theoretisch und praktisch ist V. Nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Jdeen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden. Ph. 3, 202; Bei ganzen Völkern liegt die V. unter der Thierheit gefangen. 270; V., Tochter Gottes, Schirmherrin der Männer, Athem der Seele! M. 2, 348; Durch diese Einsicht Meister von deinen Empfindungen zu werden und sie an den Wagen der V. zu fesseln. Ph. 1, 3; „Ihr seid nicht klug. Ein unvernünft’ges Vieh“ — Ist bald gesagt. Das Thier hat auch V., | Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen. | Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn | ’ne Vorhut aus etc. 517a; Der Krieg zwischen V. und Witz und ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit. 7, 182; Die Schwärmerei, wenn sie von der gesunden V. in die Enge getrieben wird. 2, 49 etc. —
2) zuw. auch: das für einen best. Fall, für best. Verhältn. als vernünftig Erscheinende: V. [vernünftigen Rath etc.] annehmen (s. d. 2a); Hören Sie V. an, wenn Sie können! 14, 186; Es geschah dem portugiesischen Juden Recht, der den Spötter vor Ferney V. hören machen wollte. 14, 249; Wie die Weiber, die beständig | zurück nur kommen auf ihr erstes Wort, | wenn man V. gesprochen stundenlang. 369b, vgl.: Über die Zeitgeschichte der Zeitgenossen zur V. zu reden. Nachg. 1, 329.
Anm. Ahd. firnum(i)ft, firnunft, firnum(i)st, firnunst, mhd. vernunft, vernunst etc. von vernehmen (s. d. und die etymol. Verse. W. 2, 51), vgl. andre vralt. Zsstzg. von Nunft. 2, 695 und 132 etc. Mz. ugw., doch z. B.: Den lebenden V–en und Verstanden | und Sinnen. 4, 39; Der Verstand’ und der Vernünfte Jammer 3, 207 und schon: Hans Sachs .. reimet von den Regierern also: ... Männer von Zünften | regieren mit schlechten Vernünften. 184.
Zsstzg. z. B.: Allēīn-: die einem Wesen allein eignende, gleichsam als Monopol zukommende Vernunft. Jahn M. 111. —
Gêgen-: eine Vernunft, die einer andern widerstreitet: Wie Nichts so spitzig mit Vernunft mag vorgebracht, das nicht mit G. möge widerlegt werden. Luther 1, 391b etc. —
Hálb-: eine Vernunft, die es nicht voll und ganz ist: Gewebe von Halbgerechtigkeit, Halbfreiheit, H. Seume. —
Schēīn-: die nur dem Schein nach, nicht in der That Vernunft ist. —
ūber-: (iron.) eine das Maß übersteigende u. somit in ihr Gegentheil umschlagende Vernunft. L. 13, 607. —
Un-: der Mangel der Vernunft (vgl. Vernunftlosigkeit), nam. bei Wesen, von denen man Vernunft beanspruchen darf, ein unvernünftiges Thun, solche Handlung. Sir. 21, 26; Aus U. Arnim 56; Darum trifft denn auch die Rache des beleidigten Genius der Schöpfung schwerer die U. als den Mangel an Vernunft. Linck Schl. 1; Eine Religion nicht der U., sondern der Vernunft. Stahr Par. 2, 209. Auch: Hans (s. d.) U. mit dem Kopf hindurch. Luther SW. 64, 218, vergl. ungw. als Ew.: Der heißt wohl un-v. [unvernünftig] und grob. Brant N. 59, 32 etc. —
ǖr-: die von Urbeginn an waltende (göttliche) Vernunft: Ich glaub’ an die Herniederkunft | der menschgewordnen U. Schwab 117.
Work in progress
Die Arbeiten am Wörterbuch sind noch nicht abgeschlossen. Beachten Sie daher folgende Hinweise:
- Artikel können falsch segmentiert sein.
- Lemmata können falsch aufgelöst sein.
- Die Struktur, v. a. von Lesarten, kann falsch ausgezeichnet sein.
- Falsch erkannte Zeichen sind nicht auszuschließen.
- Faksimiles können fehlen oder falsch beschnitten sein.
- Das generierte TEI/XML kann invalide sein.