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natürlich Natürlichkeit
Natürlich, a. (~keit, f.; –en):
auf die Natur (s. d.) bezüglich, daraus hervorgegangen, ihr gemäß, sich daraus ergebend oder erklärend etc., mit mannigfachen, oft in einander spielenden Nüancen: 1) (veraltend, nur als attrib. Ew., heute gw. durch „Natur“ als Bstw. in Zsstzg. ersetzt): die Natur, in engrem Sinn ihre 3 Reiche zum Gegenstand der Forschung machend und auf solche Forschung bezüglich: Ein n–er Meister [Naturkundiger]. HSachs G. 1, 225; Eppendorf 54 etc.; N–e Historie (1), Geschichte (Forster R. 1, 52, vgl. Naturgeschichte), Merkwürdigkeiten (199; 251) etc. 2) wie es die Natur im Gegensatz der Kunst oder der umgestaltenden Kultur etc. erzeugt, hervorbringt etc.: Die Thiere im n–en [ursprünglichen] Zustand [versch. 5] der Wildheit, im n. wilden Zustande, Gegensatz gezähmt; N–e [Ggstz. künstlich etc.] Blumen, Magnete, Mineralbrunnen; N–er Ruß, wie er sich zw. fetten Steinkohlen findet; Die Haare, Locken sind nicht n. [falsch]; N–e Höhlen zu künstlichen Grotten umbilden; Durch n–e Besamung enstandner Holzanflug; Der n–e Fall, das n–e Gefäll eines Wassers; N–e Wasserleitung; Die n–en Zweige des Baums (Röm. 11, 21), im Ggstz. der eingepfropften etc.; N–e [angeborne] Anlagen, Gaben, Fähigkeiten, Talente; Viel n–en Witz, Verstand haben; N–e [instinktmäßige] Triebe; Doch siegte zuletzt der n–e Drang zu dem reizenden Lied der Thalia. Platen 4, 245; Sein n–er Widerwille gegen die majestätischen Tugenden. W. 6, 77; Eine n–e Abneigung [Antipathie] gegen Etwas haben etc. Veralt. als Adv. (vgl. 7): Es sind alle Menschen n. [v. Natur] eitel. Weish. 13, 1 etc., vgl.: Daß unser Tod .. nicht n–erweise herkömmt, sondern eine Frucht . . ist der Sünde unsres Vaters Adam. Luther 6, 232b etc. Auch (selten): Durch die große N–keit seines Genies ergriff er . . schnell die Hauptpunkte, worauf es ankam. G. 39, 459, etwa = durch sein großes n–es Genie. 3) (s. 2) aus der Natur, dem innern Wesen von Etwas von selbst hervorgehend, naturgemäß, z. B.: N–e Zeichen, im Ggstz. der willkürlichen (s. d.). Engel 4, 300; 302; L. 11, 155; Ob die Wörter willkürlich oder n. wären. Schottel 64; N⁴e Funktionen (Verrichtungen etc.) des Körpers, wie Athmen, Verdauen, Schlafen etc.; Eines n–en [Gegensatz gewaltsamen] Todes (versch. 6) sterben; Der n–ste Tod ist der an Alterschwäche; Das n–e Bedürfnis . ., Jemand zu haben, dem er .. seine Glückseligkeit entdecken kann. W. 6, 76; Mittheilung ist dem Menschen eins der n–sten geistigen Bedürfnisse (s. a); Die n–e Liebe zw. Eltern und Kindern; Die n–en Bande der Verwandtschaft etc.; Wir haben hier eine n–ere Eintheilung als bei Linné, obgleich das n–e Pflanzensystem noch weit von seiner Vollendung entfernt ist; Meere und Gebirge sind die n–sten Grenzen eines Landes; Der Mann ist der n–e Vertreter seiner Frau; Mag der Zustand der Wildheit den Menschen in ihrer Kindheit immerhin n. gewesen sein: dem Menschen an und für sich ist er nicht n. (un-n.); [Kotzebue war] der rechte Vertreter der wuchernd aufgeschossenen Kultur, das n–e Kind [versch. 12] einer solchen Zeit. Gervinus Lit. 5, 551, vgl.: Die n–en Erzeugnisse einer Zeit, eines Landes etc.; Die N–keit des wilden Zustands für die Thiere widerlegt durch- aus nicht die Un-N–keit dieses Zustands für Menschen etc.
a) (vgl. 11): Ein n–es Bedürfnis [s. d. 1b] befriedigen, vgl.: In der n–en Noth auf dem geheimen Gemach. Luther 8, 257a; Der n–ste Weg für genossene Speisen ist der Darmkanal, minder n. ist das Erbrechen; Das gehet in den Bauch und wird durch den n–en Gang ausgeworfen. Matth. 15, 17; Daß Alles in den Magen geht und seinen n–en Ausweg nimmt. ebd.
b) ohne künstliche Berechnung sich von selbst ergebend: Der n–e Tag, von Sonnen- Aufgang bis -Untergang (oder auch bis zum nächsten Sonnenaufgang); Das n–e Jahr, z. B. v. einer Frühlings-Nachtgleiche bis zur folgenden etc., s. auch 13. 4) (s. 3) aus der Natur der Sache von selbst hervorgehend, selbstverständlich, leicht erklärlich, begreiflich: Das Gespräch machte sich ganz n. G. 17, 210; Die n–ste Folge davon war, daß etc.; Ein sehr n–er Wunsch; Es ist sehr n., daß etc.; Nichts n–er als daß etc.; Das N–ste wäre nun gewesen, daß etc.; Ich will dir’s geben, aber n–er-weise (oder n.) musst du’s mir wiedergeben; „Willst du’s wiederhaben?“ N. [Das versteht sich]; Das muß n. sehr künstlich gemacht werden; N., bei Wiederholung und unter Umständen ein akademisches Tuschwort. Vollmann; N., wenn ein Gott sich erst 6 Tage plagt | und selbst am Ende Bravo sagt, | da muß es ’was Gescheites werden. G. 11, 103; Das Haus eines Kanzlers ist n–er-weise [iron.] eine Freistatt der Tugend. L. Gal. 5, 5; Weichlichkeit ist das Einzige, worin es n–erweise der Schüler weiter bringt als sein Meister. Leisewitz Jul. 16 etc. 5) dem gewöhnlichen, regelmäßigen Laufe der Natur gemäß, normal: Die Krankheit nimmt ihren n–en Verlauf; Heißhunger ist ein nicht (oder un-) n–er Hunger, Zustand [versch. 2]. 6) Theolog.: der Natur als der Sinnenwelt angehörig, sinnlich, irdisch, Ggstz. geistig, so: Der n–e Mensch (1. Kor. 2, 14); ein n–er Leib (15, 44 ff.); Der n–e [zeitliche] Tod, Gegensatz: der ewige (versch. 3) etc. 7) (vgl. 6) der Sinnen- und Erfahrungswelt und deren Gesetzen gemäß (vgl. als Ggstz. über-n. und wunderbar): Das geht nicht mit n–en [rechten] Dingen zu; Die Sache ging ganz n. zu; N–e Magie oder Zauberei; Kann Das n. geschehen? | ist es Schatten? ist es Wirklichkeit? G. 11, 52; Weil Sara nun veraltet n. nicht konnte Kinder tragen. Luther 8, 52b etc., gw.: auf n–e Weise (vgl. 2); Ich hatte so- ~ . viel mit Betrachtung des N–en zu thun, daß ich fürs Wunderbare keine Zeit übrig behielt. W. 13, 26 etc.
a) Die N–keiten, einzelne empirische Erfahrungen: Anstatt die Natur als selbständig, lebendig vom Tiefsten bis zum Höchsten gesetzlich hervorbringend zu betrachten, nahm er sie von der Seite einiger empirischen menschlichen N–keiten. G. 27, 36. 8) wahr, der Wirklichkeit entsprechend: Die Maske abnehmen und sich einander in ihrer n–en Gestalt zeigen. W. 6, 80 etc. Dazu manche nahe an einander grenzende Nüancen:
a) dem Urbild ähnlich: Eine n–e [naturgetreue] Abbildung; Er sieht in der geschwollnen Ratte | sein ganz n. [leibhaftes] Ebenbild. G. 11, 88; Er sieht n. so aus wie sein Vater, er ist der n–e Vater [ganz leibhaftig so wie sein Vater].
b) in Bezug auf die Kunst: die Wirklichkeit getreu darstellend, und zwar nach versch. Auffassung entw.: die gemeine Wirklichk., das nur zufällig Existierende, oder: das Jdeale, das im höhern Sinn Wahre und wirklich Seiende, Beides im Ggstz. des Gekünstelten, Gemachten, Unwahren, nur Konventionellen (s. 9): Wie er hochgelehrt und doch mit schlichter | N–keit das Nackte hier gestaltet. Cham. 4, 140; Die Beschreibungen, die Gleichnisse etc. [im Homer] kommen uns poetisch vor und sind doch unsäglich n., aber freilich mit einer Reinheit und Innigkeit gezeichnet, vor der man erschrickt. Selbst die sonderbarsten, erlogenen Begebenheiten haben eine N–keit, die ich nie so gefühlt etc. G. 24, 4; Wetteifernd mit der Natur etwas geistig Organisches hervorzubringen und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es n. zugleich und über-n. [s. d.] erscheint. 30, 287; Wenn man den Nachahmern eine falsche N–keit zuschrieb, so blieben die Jmaginanten von dem Vorwurf einer falschen Natur nicht befreit. 381; 1, 119; Diese Fiktionen . ., deren jede Kunst bedarf, werden so übel von allen Denen verstanden, welche alles Wahre n. haben wollen und dadurch die Kunst aus ihrer Sphäre reißen. 33, 20; So steht dieses Bild .. auf der Grenze einer gewissen konventionellen Idealität . .. und einer unbedingten N–keit, welche die Kunst, selbst wider Willen, an eine oft beschwerliche Wahrhaftigk. bindet. 27, 315; Nun werdet ihr, | N–es und Künstliches, nicht mehr | einander widerstreben, sondern stets vereint | der Bühne Freuden mannigfaltig steigern. 6, 354; Der heilige Bartholomäus halb geschunden .und ich soll seine schrecklich n–e [gemein-wirkliche] Unnatur durchtasten und durchfühlen. H. 11, 280; An den platten N–keiten unsrer dramatischen Schriftsteller. Schlegel Dram. 2, 2, 388. 9) einfach und ungezwungen, keine Spur von Absichtlichk., Berechnung, Gemachtem, Kunst etc. an sich tragend, vgl. naiv: Ein n–er, offner und unverstellter Mensch; Ein n–es Benehmen, Betragen; N–e Anmuth, Grazie; Drang darauf, daß rein und n. [8b] .. geschrieben werde. Durch diese löblichen Bemühungen ward jedoch der breiten Plattheit Thür und Thor geöffnet. G. 21, 53; Am Stil gekünstelt, daß er recht n. werde. Stein 3, 57; Je einfältiger, klärer und tief-n–er ihre Worte sind, desto mehr wird man sie mit Auslegungen salben. H. R. 7, 111; So anspruchslos und n. wie möglich zu erscheinen. Sealsfield Leg. 2, 6 etc.; Ob es mit dem selbstgefälligen Behagen der Eitelk. oder mit anspruchsloser N–keit geboten wird. Burmeister gB. 1, 118; Soviel Gemüth, liebenswürdige N–keit. Eckermann G. 2, 327; Die N–keiten, die wir in unsrer Gesellschaft Unsitte nennen [s. 10]. Gervinus Lit. 5, 18; Die derbe N–keit des alten Testaments und die zarte Naīvetät [s. d.] des neuen. G. 22, 76; 21, 193; In Rousseau’s dem socialen Zwang entgegengesetzten lieben N–keiten. DViertelj. 1, 2, 99 etc. 10) (s. 9) in Punkten, wo Sittlichk. oder Sitte der Rede gewisse Schranken gesteckt, ohne Beachtung derselben sich äußernd (vgl. 11): Zu mehr als wörtlichen Unanständigkeiten verführt . . Allzu n–e [freie] Gespräche. CFBahrdt 2, 123; Mein Ohr gewöhnte sich so sehr an Gespräche über Dinge, die der Wohlstand zu erwähnen verbietet ..., daß ich das Reden und Hören solcher N–keiten gewohnt wurde. 12; Von n–en Sachen n–er zu reden. Fischart (Wackern. 3, 477 Z. 33) etc. 11) (s. 10) N–e Dinge [die der Anstand nackt zu nennen verbietet] sind nichts Arges, naturalia non sunt turpia, s. 3a; Die n–en Theile, Glieder, die Geburtsglieder. 51* 12) Ein n–es Kind, ein uneheliches, schon Tappius (1539) S. 69a, vergl. L. 5, 307; Er erzog einen einzigen n–en Sohn bei sich. G. 28, 17 etc., eig. und zunächst wohl: ein leibliches Kind in Beziehung zu den Eltern, ohne Rücksicht auf die Ehe, insofern diese nicht als in der Natur, sondern nur in der Sitte begründet angesehen wird, vgl. z. B.: Seiner n–en [leiblichen] Schwester. Fischart B. 168b. 13) Mus.: Die n–e Tonleiter, die ohne Vorzeichen, d. h. C-Dur und A-Moll, insofern sie als die ursprünglichen angesehn werden, woraus die übrigen abgeleitet werden.
Anm. Veralt. ohne Uml.: In ihrem naturlichen Wesen verbleiben. Weidner 150. Die Steigrung ist dem Sinn gemäß nur in einigen Bed. üblich.
Zsstzg. z. B.: Āūßer-: außer der Natur seind: „Warum erscheint auch mir ein vollkommnes Kunstwerk als ein Naturwerk?“ Weil es mit Ihrer bessern Natur übereinstimmt, weil es über-n., aber nicht a. etc. G. 30, 399; auch: außer dem gewöhnlichen Lauf der Natur seind, abnorm: Allen wider-n–en, a–en, seltenen Affektionen der Retina. 37, 49.
Úber-: über die (sinnliche oder Erfahrungs-) Natur seind, s. wunderbar, außer-, wider-n.: Eine Sache ist wunderbar, wenn sie ü. ist und ästhetisch wunderbar, wenn sie dem schönen Verstande .. ü. scheint. Mendelssohn 4, 1, 387; Ist der Grad der Fertigkeit oder das Objekt den Absichten der Natur nicht gemäß, so ist die Neigung un-n. und zwar in dem ersten Fall über-, in den letzten wider-n. 105; Proben von seiner ü–en Kraft. G. 10, 30; Leichtglaubig in Ansehung der ü–en Dinge. Hebel 3, 356; So verschwindet das Ü–e der Begebenheit, aber das Außerordentliche bleibt. Sch. 778a; Ü. schön? Das wollt’ ich auch wohl nicht sagen; denn ich verstehe mich nicht viel auf ü–e Sachen. W. 1, 178; 6, 22; Den unserer Natur eigenen Hang zum Übersinnlichen und Ü–en. 32, 200 etc.; Seine [des alten Testaments] Überladung mit Wundern und ü–keiten [ü–e Dinge]. CFBahrdt 3, 47; 50; Gerede von Vorbedeutungen, Ü–keiten. Bucher NatZ. 11, 489 etc.
Un-: der Natur ungemäß [s. o.], vgl. wider-n.: Eine u–e Härte, Grausamkeit; Der u–e Sohn erschlug den Vater; Eine dem Menschen u–e Blutgier; In natürlichen und u–en Wollüsten. W. 34, 97; Maschinen und Flugwerke, in welchen Götter .’. auf und von der Bühne sich fördern . . ., Das Alles geht vor unsern Augen so natürlich-unnatürlich zu. Schütze HambTh. 701; U–er Hunger; Eine Frucht von u–er [abnormer, ungewöhnlicher] Größe etc., auch: Die Gier nach U–keiten [u–en Dingen]. IP. 36, 76; Diesen Greueln und U–keiten der Lohenstein’schen Schule. Prutz GschTh. 227; Die Burlesken mit Zaubereien, U–keiten durchmischt. Schütze HambTh. 47.
Wīder-: der Natur widerstreitend, gegen die Natur seind, un-n.: Wenn die Menschen den Stand der Natur verlassen haben sollen, so muß ihr jetziger Stand ein w–er oder über-n–er, auf jeden Fall aber ein unmenschlicher sein. Börne 5, 43; So würde der Hexameter doch einer deutschen Jlias ebenso w. sein als etc. B. 178a; Da denn doch zuletzt nur w–e und widergeistige grasse Gestalten zum Vorschein kommen. G. 4, 201; 37, 49; Da die Haare .. w. in der Fettigkeit sich erzeugen. H. Ph. 4, 41; Die w–e tyrannische Bedingung. Klinger Giaf. 458; Sich in Empfindungen hineinzuzwingen, unter deren W—keit sich seine Seele sträubt. Sch. 102a etc.