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Lippe
Lippe, f.; –n; Lippchen, lein; –n -, Lipp-:
1) bei Säugethieren die beweglichen fleischigen Ränder des Mundes: Mittels der L–n saugen die Jungen an der Brust der Mutter; Ein gutes Pferd darf keine dicken L–en haben etc., nam. oft von Menschen, z. B.:
a) Rothe, blühende L–n; L–en roth, wie Rosen, wie Korallen; Deine L–n sind wie eine rosenfarbene Schnur und deine Rede lieblich (s. c). Hohel. 4, 3; Eine Rosenknospe | sah ich, frisch erblüht, | voller Scham, daß röther | deine L. glüht; Auch die Rose der L–n verwelket ihm. V. Bion 1, 11 etc.; Des Greises welke L.; Des Kranken bleiche L.; Die Wunde brennt, die bleichen L–n beben. Körner 25b; Mit rother Nasenspitze und blauen L–n [vor Frost]. W. 11, 227 etc.; Schöne, feine, schöngeschnittne L–en; Häßliche, dicke, hangende, wulstige, aufgeworfne L–n etc.
b) die L. küssend und geküsst: Hand in Hand! und Lipp’ auf Sanders, deutsches Wörterb. II. L.! | liebes Mädchen, bleibe treu! G. 1, 46; Nicht zu liebeln leis mit Augen, | sondern fest uns anzusaugen | an geliebte L–n. 105 etc. S. auch: Damals [in der Zeit der alten Griechen] trat kein gräßliches Gerippe | vor das Bett des Sterbenden, ein Kuß | nahm das letzte Leben von der L. Sch. 22a etc.
c) als Sprechorgan, oft für „Mund“ (s. d., Maul 2 und vgl. Zunge) und, wie dies, für den Sprechenden und das gesprochne Wort: Hanna redete in ihrem Herzen, allein ihre L–n regten sich. 1. Sam. 1, 13; In diesem Allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen L–n [Worten]. Hiob 2, 10; Daß dein Mund voll Lachens werde und deine L–en voll Jauchzens [etwa = du]. 8, 21; Dein Mund [du selbst] wird dich verdammen und nicht ich, deine L–n sollen dir antworten. 15, 6; Meine L–n preisen dich. Ps. 66, 14; Böser Leute L–n [Böse Leute] rathen zum Unglück. Spr. 24, 2; 27, 2; Wer seine L–n [gew. den Mund] hält. 10, 19; Daß dies Volk .. mit seinen L–n [in Worten] mich ehrt, aber ihr Herz ist ferne von mir. Jes. 29, 13; Die L–n der Hure sind süße wie Honigseim. Spr. 5, 3; Seine L–n sind wie Rosen (s. a), die mit fließenden Myrrhen triefen (vgl. b). Hohel. 5, 13 etc.; Der Baron horchte ihm jedes Wort von den L–n. Engel 1, 53; „Wenn dir in Gegenwart meiner Frau so ein Wort entführe!“ Glauben Sie nicht, daß ich Herr über meine L–nbin?G. 10, 20; Des Dichters L., | die süßeste, die je von frühem Honig | genährt war, wünscht’ ich mir. 13, 138; Von angenehmen L–n ausgesprochen. 15, 24; Vertilg, o Herr, die glatten L–n alle, | die Mäuler, die so stolze Worte führen. Mendelssohn Ps. 12, 3; Den bestimmten Ausdruck Dessen, was der Zeit längst im Sinn und auf den L–n geschwebt. Monatbl. 1, 311b; Sprich es nie | mit Silben aus, vertrau es nie den L–n. Sch. 258a; Welchem Phöbus die Augen, die L–n Hermes gelöset. 86a etc.
d) L., wie Mund und Zunge (s. d.), als Sitz des Geschmacks und des dar- auf ruhenden Genusses, eig. und übertr.: Aha, du fängst schon an, die L–n abzulecken [in Erwartung leckern Genusses]. G. 11, 93; Blut’ge Tigermahle netzen | eines Gottes L–n nicht. Sch. 55b; Solang die Lebensquelle | schäumet an der L–en Rand. 54a; Wie Schade, wär’ es nur ein schönes Luftgesicht [Phantom], | wornach er uns die L–n wässern machte! W. 3, 34; Daß ich kaum meine äußersten L–en gelabt zu haben glaubte, als der göttliche Mann zu reden aufhörte. 16, 196; Wir wollen uns die L–n nicht verbrennen [wie an einer heißen Speise: wir wollen ruhig auf die Mittheilung des Geheimnisses warten] | Sie kommt, es sei nun was es sei. 11, 274 etc.
e) Sich die L–n; in, auf die L–n beißen (s. d., Anm.
1) etc., aus Unmuth, Verdruß, Ungeduld etc., welche Empfindungen man augenblicklich nicht in Worten äußern kann oder will: Biß voll Unmuths die L–n. Engel 12, 64; Freiligrath 2, 85; So entsteht eine Unruhe in mir, die unaussprechlich ist: Die Fußzehen in den Schuhen fangen an zu zucken . ., die Finger der Hände bewegen sich krampfhaft, ich beiße in die L–n etc. G. 14, 160; Der Mann biß sich in die L–n. „Bah!“ sagte er endlich. Sealsfield Leg. 2, 9; Jene, gesammt auf die L–n sich beißend, | staunten Telemachos an. V. Od. 1, 382; vgl.: Da nagte sich Here und Pallas Athene die L–n. B. 212b [„schnoben drob | in sich hinein“. 156b] etc.; um Etwas, nam. Lachen zu verbeißen: So sehr ich die Lipp’ auch beiße, dennoch lach’ ich auf. V. Ar. 3, 97; Zwar hätte sich Zerline die L–n fast zerbissen | und lächelnd zog den Mund der Paladin sogar. W. 12, 214; Er lachte leis und kniff die L. mit dem Zahn. Rückert Rost 27a. f) Die L. aufwerfen, als Zeichen von Hohn, Trotz, Verachtung etc. Immermann M. 1, 286; Wenn Sie die kleine L. so trotzig aufwerfen und das Näschen höhnisch rümpfen. FSchlegel Fl. 81 etc. g) Die L. hängen lassen, maulend, schmollend. Olear. Ros. 45b etc.
2) verallgemeinert: L–n-ähnliches, z. B.:
a) Anat.: Ränder einer Knochenhöhle, z. B. nam. der Pfanne; ferner: die leistenartigen Hervorragungen an Knochenrändern, die der Länge nach eingekerbt sind; ferner: die Ränder des Muttermunds; die Ränder der weiblichen Scham (Scham-L–n).
b) Botan.: s. Labium 1.
c) Chirurg.: die Ränder einer Wunde, z. B. übertr.: L. 8, 314.
d) Entomol.: die Fortsetzung des Rüssels.
e) Gewehrfabr.: am Flintenschloß der Rand des Hahns: Zwischen den Hahn- L–n statt des Feuersteins ein Stahlstück eingeschraubt. Karmarsch 2, 84 etc.
f) Ichthyol.: die fleischigen Ränder des Mundes bei manchen Fischen, z. B. den Lippfischen.
g) Konchyl.: bei den Schnecken der innre und äußre Rand der Offnung; bei den Muscheln die Ränder des Schlosses etc.
h) Orgelb.: s. Labium.
i) Schiff.: die Enden zweier zusammengefügten Hölzer: Eine Fuge oder Keep mit rechten oder graden L–n, wenn jedes der beiden zusammengefügten Enden zwei rechte Winkel hat, im Ggstz.: mit verlornen L–n, wenn das Ende schräg geschnitten ist, so daß es einen spitzen Winkel bekommt; ferner: die Einschnitte und Hervorragungen z. B. in den Klampen, s. Lippklampen. k) Schneider.: Dieser Rock wird so angegürtet, daß er die Taille abschneidet und die L–n des Korsetts bedeckt. G. 23, 45, die Schneppe (s. d.).
1) Uhrmach.: an Cylinderuhren die Kanten des Ausschnitts am Cylinder.
Anm. In der Basler Bibel von 1523 noch als „ausländig“ erklärt durch „Lefze“ (s. d. und Anm. zu Labbe).
Zsstzg., vgl. die von Mund, z. B. nach dem Wesen, dem die L. angehört: Pferde-L.; Knaben-, Mädchen-L.; Gesang | der .. von Engels-L–n klang. G. 11, 33; Wenn .. mit Grazie die Redner-L. spielt. 13, 99 etc.; auch zuw.: ein Wesen mit so oder so beschaffnen Lippen, ferner: Brēīt-: s. Großlappen.
Dóppel-: Ober- und Unter-L. L. G. 10, 291. Hāhn- [2c].
Hänge-: herabhängende, s. Labbe, Flunsch etc. und: Jemand mit H–n.
Hōnig-: süße, z.B.: die süßredende des Dichters. G. 32, 12; die süßküssende der Geliebten etc. Korállen- [1a]: nach dem frischen Roth. W. 13, 31, ebenso Purpur-, Rosen-, Rubin-, Zinnober-L. etc.
Öber-: die obre, Ggstz.: Unter-L.
Rōsen-: s. Korallen-L.; Was sollen wir Alten denn thun, wenn R–n von Ruhe reden? Klinger Teutsch. 248; Daumer 2, 51; Das Lächeln dieser R–n. Wagner 9, 127; Wenn Weisheit von den R–n fließt. 27, 25 etc.
Rubīnen-: s, Korallen-L. Daumer 1, 53. Schām- [2a].
Unter-: s. Ober-L.
Vōr-: der vordre rothe Rand.
Wásser-: die kleinen Scham-L–n.
Wónne-: O süßer Ton aus diesen W–n! Hölderlin H. 2, 18. Wúlst-, Wúrst-: wulstige, aufgeworfne Lippe und Pers. mit solcher.
Zinnōber-: s. Korallen-L.
Zúcker-: se Honig-L. u. ä. m.