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Sitte sitten Sitter sittet Sittich sittig sittigen Sittigkeit Sittiglich sittlich sittlichen sittsam Sittung
Sitt~e, f.; –n; –n-:
1) Gewohnheit, z. B.:
a) veralt. (m., s. Anm.) in Bezug auf einen Einzelnen: Nun hatte der Papst einen S–n, daß etc. Luther 6, 500b, er pflegte etc.
b) gw. aber: das in einem (größern oder kleinern) Kreise Gewöhnliche, Übliche; der herrschende Brauch: Es ist nicht S. in unserm Lande, daß etc. 1. Mos. 29, 26; In andern Ländern mag es S. sein, | doch hier versagt’s Gewohnheit und Gesetz etc. G. 35, 314 u. o., s. nam. Garve Vers. 4, 2; vralt. m.: Es ist vorlangst gewesen auch der Sitt. Wackern. 2, 228²etc.; Die alte S. mitmachen. Immermann M. 1, 392; Die S. des Gesundheittrinkens etc. Nach Jägers Sitt. Teuerdank 40 etc.; Jene, der S. gemäß (denn S. ward aus Gewohnheit) | brachten ihr Trauergeschrei. V. Ov. 1, 93 etc.; Die Gesetze müssen sich den S–n anschmiegen. Sch. 822a etc.
2) (s. 1; vgl.
3) insofern der herrschende Brauch als zu beobachtende Richtschnur für das Thun gilt:
a) Nicht die Sittlichkeit regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben, die S. Auerbach Barf. 248; Legitim heißt, wenn nicht sitt- lich, doch gedeckt durch die S. Gutzkow R. 5, 466; Wird bei einem Weibe ein Verstoß gegen die S. einem gegen die Sittlichk. fast gleich geachtet. HHerz 110 etc. (vgl. 3).
b) bibl. oft = Satzung, Gesetz etc., z. B. 3. Mos. 3, 17; 5, 4, 8: 1. Kön. 2, 3; 3, 14; 8, 58; 61 etc., vgl. (veralt.) so: Sittigkeit. Stumpf 349b = Ordensregel etc. 3) die in Jemandes Thun und Benehmen sich kundgebende Art des Seins (zusammengefasst in Ez. od., in Bezug auf die einzelnen Kundgebungen, in Mz.), beurtheilt nach Dem, was recht und gut (moralisch, sittlich) oder was schicklich, der feinen Lebensart gemäß ist (vgl. Manier 2; 3), z. B. mit Ew.: Böse Geschwätze verderben gute S–n. 1. Kor. 15, 33; Ins rohe Leben bracht’ ich milde S. G. 13, 347; [Er hat] der besten Sitt’ als Kavalier gepflogen. WhMüller 1, 381; Die Bezähmerin wilder S–n. Sch. 55a; Seine rohen S–n. 408a; Die Gesellin .. verworfener S–n. FSchlegel GR. 307; Feine S. Streckfuß Rol. 3, 29; Feine, ritterliche etc., bäurische, grobe S–n etc.; ferner ohne Ew., z. B.: Die Kunst versöhnt der S–n Widerstreit. G. 6, 435; Die Einfalt macht, daß ländlich sittlich [s. d. 1] heißt; | ein weiser Mann ist Schöpfer seiner S–n. Hagedorn 2, 288, er bestimmt sein Thun nicht nach dem herrschenden Gebrauch, sondern nach Dem, was er für recht einsieht etc.; Er warf sich auf zum Richter meiner S–n. Sch. 462a, s. S–n-Richter; Allein durch seine S. | kann er [der Mensch] frei und mächtig sein. 56b, seine Freiheit und Macht ist von der Art seines Seins und Handelns bedingt etc.; bes. oft prägn., theils = gute, theils = feine S., z. B.: Was Vater und Mutter | schicklich erklärt, wenn Mode justnicht, ist, denk’ ich, doch S. Baggesen 1, 114 (vgl. 2a); Man kannte im Staate weder Treue noch S–n [gw. S.]. Forster Voln. 63, vgl.: Fernen Inseln des Meers sandtet ihr S–n und Kunst. Sch. 76a etc.; Davon ich die Historiam | hier nicht erzähl’ aus Sitt’ und Scham. G. 6, 65; Warf sich, der S. quitt, an meinen Hals. Müllner 4, 30; Sein adeliger Sinn und seine S–n. Sch. 361b etc.; Er thät mit S–n | des Königs Tochter bitten [zum Tanz]. Uhland 260, höflich, mit feinem Anstand (alterth.). Zsstzg. mehrdeutig, nach den vorstehnden (ineinandergreifenden) Nüancen leicht zu verstehn und zu mehren, z. B.: Aus dem Taumel unsrer Affen-S–n. H. Merck 2, 16, nachgeäffte; Bauern-S.; Nach Citherspieler-S. Wackern. 2, 1271⁵; Nach hergebrachter Dorf-S. Thümmel 1, 150; Verflucht, was Franzen-S. lehrt! Matthisson A. 11, 6; Ihr zwingt mich, Frauen-S. [3] zu vergessen. Tieck Cymb. 2, 3; Ob ihre Güte in Hof-S. [leere Höflichkeit] aus- arte. Pfeffel Pr. 1, 68; Wozu nach Krieger-S. mich die Ehre | berechtigt. G. 35, 278; Da geht Alles nach Krie- gessitt’, | hat Alles einen großen Schnitt. Sch. 322b; Das Landrecht und Land-S–n [2] den kaiserlichen gemeinen Rechten vorgezogen. Luther 1, 311b; Sichnach der Landes- S. richten etc.; Nach der alten | bestehnden Ritter-S. [1]. G. 35, 303; Ritter-S. [3], Mitleid hält .. ihn. Jris 3, 46; Der Höflingsart mit Ritter-S–n paart. W. 11, 114 etc.; Un-S., eine schlechte, tadelnswerthe (vgl. Unart), z. B.: Sie wussten sich nicht Rath gegen diese S., selbst wenn sie sie für eine Un-S. hielten. Gervinus Sh. 1, 95; Grabbe Hann. 45; Kohl Irl. 2, 336 etc., verstärkt: Die Erz-Unsitte, daß etc. KSchmidt Kom. Dicht. 148 etc.; Daß sie ihre dorische Ur-S. mit ausländischer vertauscht. JvMüller 6, 307; Der alten Volks-S. eine neue Moral unterzuschieben. Kriegk 2, 196; Als die Personen, nach ihrer Welt-S. [3: feinen Lebensart, vgl. Welt haben etc.] den Scherz sogleich fallen ließen. G. 21, 35 etc.
~en, tr.:
1) s. Sitt-et, -ung.
2) in Zsstzg.: Eīn-: Damit auch der Katechismus dem gemeinen Volke sonderlich eingesittet und bekannt werde, s. Haltaus 301, gleichsam den Sitten eingeprägt und einverleibt.
~er, m., –s; uv.:
(mittelalt. Bauk.) Sitzungshalle in Klöstern etc. Brugger 2, 249.
~et, a.:
in Zsstzg.: Ge-: (Partic. des un- übl. sitten):
1) mit so u. so beschaffnen Sitten (s. d. 3) oder Manieren, z. B.: Fein-, gut-, schlecht-, übel-g.; Sehr wohl-g–e junge Herrn. W. 2, 65 etc., seltner: Imfremd-g–en Volke. V. Od. 2, 367 etc. Dazu: Die Wohl-G–heit etc.
2) (s. 1) prägn. = fein-, wohl-g. in Bezug aufs Benehmen (vgl. manierlich; artig 3; bilden 6; civilisiert), z. B.: So sind die tahitischen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausschweifend als die g–ern Huren in Europa. Forster R. 1, 255; Die Leute sind gut gebildet und g. G. 14, 183; Hinreichend .., ihn vor den Augen der G–en zum un-g–sten Manne zu machen. Rabner 4, 251; Sch. 416; Auch in ihren g–sten Zeiten. Wackern. 4, 361 etc.; dazu: In unserm über-g–en Welttheile. Forster Br. 1, 240 (vgl. überbilden; Übersittung) u. nam. Ggstz.: Sie können einen un-g–en Gegner vielleicht in mir finden, aber sicherlich keinen unmoralischen [s. d.] etc. L. 10, 177; So un-g. | Ritterschaft zu treiben. Nath. 1, 1, unmanierlich; ohne feine Lebensart etc.; selten = von schlechten Sitten, z. B. Rabner 1, 15. Dazu: Ge- sittetheit; Ungesittetheit (Sulzer 4, 813) etc.
~ich, m., –(e)s; –e; -:
Psittich (s. d.). Linck Schl. 11; Reithard 91; Spindler J. 1, 171; Wackern. 2, 231³ etc. (vgl. s.-grün).
~ig, a.:
1) wohlgesittet, manierlich, artig, höflich, anständig, bescheiden. Sir. 31, 22; 32, 3; 1. Tim. 3, 2; Tit. 2, 5; Als Diese still und s. blieb, während Jene stolzierten. Arnim 51; Wenn du hübsch s. bist. Fouqué Dr. 1, 167; So s. als ein Bär nur mag. G. 2, 73; [Die Kinder] schön und s., von guter Manier. 5, 279; Das s–ste und aufgeklärteste [Volk]. W. 22, 14 etc. Dazu: Begriffe von Sittsamkeit und Anständigkeit. .. In Ansicht der S–keit ihres Charakters. W. 15, 302; Genast 1, 252 etc.; Du Anmuth- S–e! Rückert Nal 11 etc.; Ggstz.: Des un-s–en Gastes. Fouqué Gd. 1, 151; Dem un-s–en Muthwillen einer solchen Gesellschaft preisgegeben. W. 16, 168 etc. 2) (s. 1) veralt.: langsam, sachte als Ggstz. zu hastig-ungestüm, z. B. noch (wo die Bed. 1 mit hervortritt): Und wird auch kein Schleifer, kein Walzer getobt, | so drehn wir ein s–es Tänzchen. G. 1, 101, früher aber allgm., nam. adv.: S–lich sieden lassen (Ryff Sp. 278a), braten (284a), trinken (98a), anfangen (20a), streiten (Stumpf 164a) etc., vgl.: Sittlich sieden lassen (Büchsenmeist. 16), rühren (10) etc.
~igen, tr.:
sittig oder gesittet machen, kultivieren: Alexis H. 1, 2, 271; Die Völker zu s. Ders. (DMus. 1, 1, 578); Görres V. 92; Kapper Chr. 1, 117; Kohl A. 1, 106; Zu s. die Welt. Rückert W. 4, 298; Der s–de Einfluß. Scherr Bl. 1, 127; Die Franzosen halten sich für das gesittigte Volk par excellence. Stahr J. 1, 242; V. Ant. 1, 35; 86 etc.; Pflegerinnen der Sittigung. 202; Gervinus Sh. 1, 271; Kath. 12; 43; Kampf zwischen .. der höchsten Sittigung mit wilder Barbarei. Görres V. 17; Hettner gR. 118; Vischer Ästh. 2, 222 etc. Zsstzg. (selten): Jemand um-s., mit s–den Einflüssen umgeben. G. 3, 146.
~igkeit, ~iglich: s. sittig; Sitte 2b. ~lich, a.:
1) wie es Sitte (Brauch) ist, bes. verbunden mit ländlich (s. d. 2), auch: Die land-s–e Küchvorrichtung. G. 25, 88; Erbvgl. 334; Möser Ph. 3, 268; 276; 4, 237 etc.; seltner sonst, z. B.: Ich hatte dir die Hochzeitfackel ja | nicht angezündet, wie es s. ist. Sch. 239a etc. und: Gewisse konventionelle S–keiten. G. 27, 43 etc. 2) selten statt sittig (s. d.):
a) manierlich: So brachten .. die Kinder des Morgens mit Händeküssen und Knixchen | Segenswünsche den Eltern und hielten s. den Tag aus. 5, 77.
b) s. sittig 2; ferner nam. Sulzer 4, 416 ff., als Ggstz. zu leidenschaftlich; wild erregt etc.: Eine ruhige und s–e Schreibart . . schickt sich zu einem ruhigen und s–en Inhalt etc. 417b etc.
3) moralisch (s. d.):
a) ethisch; bezüglich auf die Sitte (s. d. 3), als die Art des innern Seins, beurtheilt nach Dem, was recht und gut ist, oft im Ggstz. zu sinnlich (s. d. 2b) etc.: Ein s–es Problem, Räthsel; S. gut; S. schlecht; S–e Entrüstung; In dem s–en Siechthum der Gesellschaft. Freytag B. 2, 254; Indem ich in meine physische Natur stürmte, um der s–en etwas zu Leide zu thun. G. 21, 84; Wie mächtig gewisse s–e Eindrücke sind, wenn sie sich an sinnlichen gleichsam verkörpern. 185; In ihm selbst mochte der Begriff des s–en und sinnlichen Menschen wohl ein Ganzes ausmachen. 22, 378; 26, 317 etc.; Adel ist auch in der s–en Welt. Sch. M. 1, 358.; Das s. Schöne und Große. W. 32, 156; 2, 57; Von der höhern körperlichen und s–en Vollkommenheit der Griechen. 34, 123.
b) prägn. = s.-gut, Ggstz.: un-s., z. B.: S–e und un-s–e Menschen, Handlungen, Thaten etc.; Die s–e Sinnlichkeit. G. 27, 423; Und s. selbst blieb ihre Leidenschaft. Sch. 508a; S–keit ist Freiheit; nur der freie Mensch ist s., aber auch nur der freie Mensch kann un-s. sein. Stahr Par. 2, 160 etc.; Wo S–keit regiert. G. 13, 132; 22, 378; Es giebt eine indische, .. eine christl. Sitte (s. d. 2a), aber es giebt nur eine einzige, nämlich eine menschliche S–keit. Heine B. 98 etc.; Das Un-S–e ihres Wandels. G. 31, 138; Die Gemälde stellten .. so un-s–e Ggstde vor. W. 4, 58 etc.; Un-S–keit. HHerz 110; Un-S–keiten [un-s–e Handlungen] begehn etc.; Die Liebe ur-s. DMus. 1, 2, 330; Ich war die Ur-S–keit, ich war unsündbar. Heine Verm. 1, 64 und im Sinn von sittsam, s. d. —: Das lange Faltenhemd istüber-s. G. 12, 298 etc.
~lichen, tr.:
sittlich (3b) machen. Jahn V. 132, gw. Zsstzg.: Ent-: unsittlich machen: Wie e–d und verderblich der russ. Einfluß. Bodenstedt 2, 40; Klencke Gsp. 1, 10; Lewald Vat. 2, 110 etc.; Entsittlichung. Gervinus Kath. 43; Vischer Ästh. 2, 264 etc. Ver-: Versittlicht und vernünftigt unser Leben. Auerbach Leb. 2, 284; Lewald Vat. 2, 109; Die v–de Gewalt seiner Kunst. Devrient 2, 279 etc.; Versittlichung. 317; 3, 171; Ense T. 6, 443 etc.
~sam, a.:
1) im Benehmen still und bescheiden sich in den Schranken des Anstands haltend und solchem Wesen gemäß: Wollüstig nur an meiner Seite | und s., wenn die Welt sie sieht. G. 1, 35; Still und s. will ich stehn. 131; Gryphius Fr. 5; Die be- scheidne Lerche dankt ..; so begnügt sich ein s–er Dichter etc. L. 12, 92; S. thun. Sch. M. 2, 238; S–e Rosen, stille Vergismeinnichtundbescheidene Veilchen. FSchlegel Luc. 270; W. 26, 179 etc.; Schlaue S–keit [der Koketten]. 284; Mit der strengen S–keit der priesterlichen Kleidung. 5, 23, S–keit und Anständigkeit. 15, 302 etc.; S–lich. 13, 27; Danzel 240 etc.; Zimperlich und über-s. etc.; Ggstz.: Un-s.: den Anstand verletzend, namentl. in Bezug auf Keuschheit. Heine Reis. 3, 111; Eine sehr un-s–e Lobpreisung der Keuschheit. Schlegel Dr. 2, 2, 305; Un-S–keiten. 2) (veralt.)
a) s. sittig 2: Wann Morgenroth sich zieret .. | und s. sich verlieret | der nächtlich Sternentanz. Wackern. 2, 274³¹ (Spee) etc., s. Schm.
b) einen angenehmen Eindruck machend etc.: Ihr Stimmlein so artig zu führen und s. zu ändern. 3, 611²¹ (Eselskönig).
~ung, f.; 0; –s-:
in Zstzg.: Ge-: Civilisation; der Zustand des Gesittet-Seins und -Werdens: Wachsende G. Ense Humb. 318; 75; Humboldt K. 2, 72; Einst waren sie [die Klöster] Sitz der G. Platen 4, 247; Waldau N. 2, 101; 148etc. Über-: Übercivilisation, Überbildung. OUle Nat. (55) 3b etc.
Anm. Sitte, goth. sidu, ahd. situ, mhd. sit(e), m., so noch (s. 1) nhd.: Sitt und Sitten, m., z. B. Beides Stumpf 144b; Ich hab auch den Sitt [3 = Sinn etc.]. Wackern. 2, 78ē etc. und Schm. (vgl.: Sitt- und tugendreich. G. 11, 111). Über den Stamm s. nam. Graff 6, 157; dazu ahd. situlih (sittlich); situsam (sittsam); sitig (sittig); situhaft (sitthaft) etc.; dagegen gehört Sitter wohl zu sitzen; Sittich (s. d.), mhd. sittich, stammt aus dem gr. 7τος, Géττcoς.