Sitte
sitten
Sitter
sittet
Sittich
sittig
sittigen
Sittigkeit
Sittiglich
sittlich
sittlichen
sittsam
Sittung
Sitt~e, f.; –n; –n-:
1) Gewohnheit, z. B.:
a) veralt. (m., s. Anm.) in Bezug auf einen Einzelnen: Nun hatte der Papst einen S–n, daß etc. 6, 500b, er pflegte etc. —
b) gw. aber: das in einem (größern oder kleinern) Kreise Gewöhnliche, Übliche; der herrschende Brauch: Es ist nicht S. in unserm Lande, daß etc. 1. 29, 26; In andern Ländern mag es S. sein, | doch hier versagt’s Gewohnheit und Gesetz etc. 35, 314 u. o., s. nam. Vers. 4, 2; vralt. m.: Es ist vorlangst gewesen auch der Sitt. 2, 228²etc.; Die alte S. mitmachen. M. 1, 392; Die S. des Gesundheittrinkens etc. Nach Jägers Sitt. 40 etc.; Jene, der S. gemäß (denn S. ward aus Gewohnheit) | brachten ihr Trauergeschrei. Ov. 1, 93 etc.; Die Gesetze müssen sich den S–n anschmiegen. 822a etc. —
2) (s. 1; vgl.
3) insofern der herrschende Brauch als zu beobachtende Richtschnur für das Thun gilt:
~en, tr.: a) Nicht die Sittlichkeit regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben, die S. Barf. 248; Legitim heißt, wenn nicht sitt- lich, doch gedeckt durch die S. R. 5, 466; Wird bei einem Weibe ein Verstoß gegen die S. einem gegen die Sittlichk. fast gleich geachtet. 110 etc. (vgl. 3). —
b) bibl. oft = Satzung, Gesetz etc., z. B. 3. 3, 17; 5, 4, 8: 1. 2, 3; 3, 14; 8, 58; 61 etc., vgl. (veralt.) so: Sittigkeit. 349b = Ordensregel etc. — 3) die in Jemandes Thun und Benehmen sich kundgebende Art des Seins (zusammengefasst in Ez. od., in Bezug auf die einzelnen Kundgebungen, in Mz.), beurtheilt nach Dem, was recht und gut (moralisch, sittlich) oder was schicklich, der feinen Lebensart gemäß ist (vgl. Manier 2; 3), z. B. mit Ew.: Böse Geschwätze verderben gute S–n. 1. 15, 33; Ins rohe Leben bracht’ ich milde S. 13, 347; [Er hat] der besten Sitt’ als Kavalier gepflogen. 1, 381; Die Bezähmerin wilder S–n. 55a; Seine rohen S–n. 408a; Die Gesellin .. verworfener S–n. GR. 307; Feine S. Rol. 3, 29; Feine, ritterliche etc., bäurische, grobe S–n etc.; ferner ohne Ew., z. B.: Die Kunst versöhnt der S–n Widerstreit. 6, 435; Die Einfalt macht, daß ländlich sittlich [s. d. 1] heißt; | ein weiser Mann ist Schöpfer seiner S–n. 2, 288, er bestimmt sein Thun nicht nach dem herrschenden Gebrauch, sondern nach Dem, was er für recht einsieht etc.; Er warf sich auf zum Richter meiner S–n. 462a, s. S–n-Richter; Allein durch seine S. | kann er [der Mensch] frei und mächtig sein. 56b, seine Freiheit und Macht ist von der Art seines Seins und Handelns bedingt etc.; bes. oft prägn., theils = gute, theils = feine S., z. B.: Was Vater und Mutter | schicklich erklärt, wenn Mode justnicht, ist, denk’ ich, doch S. 1, 114 (vgl. 2a); Man kannte im Staate weder Treue noch S–n [gw. S.]. Voln. 63, vgl.: Fernen Inseln des Meers sandtet ihr S–n und Kunst. 76a etc.; Davon ich die Historiam | hier nicht erzähl’ aus Sitt’ und Scham. 6, 65; Warf sich, der S. quitt, an meinen Hals. 4, 30; Sein adeliger Sinn und seine S–n. 361b etc.; Er thät mit S–n | des Königs Tochter bitten [zum Tanz]. 260, höflich, mit feinem Anstand (alterth.). — Zsstzg. mehrdeutig, nach den vorstehnden (ineinandergreifenden) Nüancen leicht zu verstehn und zu mehren, z. B.: Aus dem Taumel unsrer Affen-S–n. Merck 2, 16, nachgeäffte; Bauern-S.; Nach Citherspieler-S. 2, 1271⁵; Nach hergebrachter Dorf-S. 1, 150; Verflucht, was Franzen-S. lehrt! A. 11, 6; Ihr zwingt mich, Frauen-S. [3] zu vergessen. Cymb. 2, 3; Ob ihre Güte in Hof-S. [leere Höflichkeit] aus- arte. Pr. 1, 68; Wozu nach Krieger-S. mich die Ehre | berechtigt. 35, 278; Da geht Alles nach Krie- gessitt’, | hat Alles einen großen Schnitt. 322b; Das Landrecht und Land-S–n [2] den kaiserlichen gemeinen Rechten vorgezogen. 1, 311b; Sichnach der Landes- S. richten etc.; Nach der alten | bestehnden Ritter-S. [1]. 35, 303; Ritter-S. [3], Mitleid hält .. ihn. 3, 46; Der Höflingsart mit Ritter-S–n paart. 11, 114 etc.; Un-S., eine schlechte, tadelnswerthe (vgl. Unart), z. B.: Sie wussten sich nicht Rath gegen diese S., selbst wenn sie sie für eine Un-S. hielten. Sh. 1, 95; Hann. 45; Irl. 2, 336 etc., verstärkt: Die Erz-Unsitte, daß etc. Kom. Dicht. 148 etc.; Daß sie ihre dorische Ur-S. mit ausländischer vertauscht. 6, 307; Der alten Volks-S. eine neue Moral unterzuschieben. 2, 196; Als die Personen, nach ihrer Welt-S. [3: feinen Lebensart, vgl. Welt haben etc.] den Scherz sogleich fallen ließen. 21, 35 etc. —
1) s. Sitt-et, -ung. —
2) in Zsstzg.: Eīn-: Damit auch der Katechismus dem gemeinen Volke sonderlich eingesittet und bekannt werde, s. 301, gleichsam den Sitten eingeprägt und einverleibt. —
~er, m., –s; uv.: (mittelalt. Bauk.) Sitzungshalle in Klöstern etc. 2, 249. —
~et, a.: in Zsstzg.: Ge-: (Partic. des un- übl. sitten):
1) mit so u. so beschaffnen Sitten (s. d. 3) oder Manieren, z. B.: Fein-, gut-, schlecht-, übel-g.; Sehr wohl-g–e junge Herrn. 2, 65 etc., seltner: Imfremd-g–en Volke. Od. 2, 367 etc. Dazu: Die Wohl-G–heit etc. —
2) (s. 1) prägn. = fein-, wohl-g. in Bezug aufs Benehmen (vgl. manierlich; artig 3; bilden 6; civilisiert), z. B.: So sind die tahitischen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausschweifend als die g–ern Huren in Europa. R. 1, 255; Die Leute sind gut gebildet und g. 14, 183; Hinreichend .., ihn vor den Augen der G–en zum un-g–sten Manne zu machen. 4, 251; 416; Auch in ihren g–sten Zeiten. 4, 361 etc.; dazu: In unserm über-g–en Welttheile. Br. 1, 240 (vgl. überbilden; Übersittung) u. nam. Ggstz.: Sie können einen un-g–en Gegner vielleicht in mir finden, aber sicherlich keinen unmoralischen [s. d.] etc. 10, 177; So un-g. | Ritterschaft zu treiben. Nath. 1, 1, unmanierlich; ohne feine Lebensart etc.; selten = von schlechten Sitten, z. B. 1, 15. Dazu: Ge- sittetheit; Ungesittetheit 4, 813) etc. —
~ich, m., –(e)s; –e; -: Psittich (s. d.). Schl. 11; 91; J. 1, 171; 2, 231³ etc. (vgl. s.-grün). —
~ig, a.: 1) wohlgesittet, manierlich, artig, höflich, anständig, bescheiden. 31, 22; 32, 3; 1. 3, 2; 2, 5; Als Diese still und s. blieb, während Jene stolzierten. 51; Wenn du hübsch s. bist. Dr. 1, 167; So s. als ein Bär nur mag. 2, 73; [Die Kinder] schön und s., von guter Manier. 5, 279; Das s–ste und aufgeklärteste [Volk]. 22, 14 etc. Dazu: Begriffe von Sittsamkeit und Anständigkeit. .. In Ansicht der S–keit ihres Charakters. 15, 302; 1, 252 etc.; Du Anmuth- S–e! Nal 11 etc.; Ggstz.: Des un-s–en Gastes. Gd. 1, 151; Dem un-s–en Muthwillen einer solchen Gesellschaft preisgegeben. 16, 168 etc. — 2) (s. 1) veralt.: langsam, sachte als Ggstz. zu hastig-ungestüm, z. B. noch (wo die Bed. 1 mit hervortritt): Und wird auch kein Schleifer, kein Walzer getobt, | so drehn wir ein s–es Tänzchen. 1, 101, früher aber allgm., nam. adv.: S–lich — sieden lassen Sp. 278a), braten (284a), trinken (98a), anfangen (20a), streiten 164a) etc., vgl.: Sittlich — sieden lassen 16), rühren (10) etc. —
~igen, tr.: sittig oder gesittet machen, kultivieren: H. 1, 2, 271; Die Völker zu s. 1, 1, 578); V. 92; Chr. 1, 117; A. 1, 106; Zu s. die Welt. W. 4, 298; Der s–de Einfluß. Bl. 1, 127; Die Franzosen halten sich für das gesittigte Volk par excellence. J. 1, 242; Ant. 1, 35; 86 etc.; Pflegerinnen der Sittigung. 202; Sh. 1, 271; Kath. 12; 43; Kampf zwischen .. der höchsten Sittigung mit wilder Barbarei. V. 17; gR. 118; Ästh. 2, 222 etc. Zsstzg. (selten): Jemand um-s., mit s–den Einflüssen umgeben. 3, 146. —
~igkeit, ~iglich: s. sittig; Sitte 2b. — ~lich, a.: 1) wie es Sitte (Brauch) ist, bes. verbunden mit ländlich (s. d. 2), auch: Die land-s–e Küchvorrichtung. 25, 88; 334; Ph. 3, 268; 276; 4, 237 etc.; seltner sonst, z. B.: Ich hatte dir die Hochzeitfackel ja | nicht angezündet, wie es s. ist. 239a etc. und: Gewisse konventionelle S–keiten. 27, 43 etc. — 2) selten statt sittig (s. d.):
a) manierlich: So brachten .. die Kinder des Morgens mit Händeküssen und Knixchen | Segenswünsche den Eltern und hielten s. den Tag aus. 5, 77. —
b) s. sittig 2; ferner nam. 4, 416 ff., als Ggstz. zu leidenschaftlich; wild erregt etc.: Eine ruhige und s–e Schreibart . . schickt sich zu einem ruhigen und s–en Inhalt etc. 417b etc. —
3) moralisch (s. d.):
~lichen, tr.: a) ethisch; bezüglich auf die Sitte (s. d. 3), als die Art des innern Seins, beurtheilt nach Dem, was recht und gut ist, — oft im Ggstz. zu sinnlich (s. d. 2b) etc.: Ein s–es Problem, Räthsel; S. gut; S. schlecht; S–e Entrüstung; In dem s–en Siechthum der Gesellschaft. B. 2, 254; Indem ich in meine physische Natur stürmte, um der s–en etwas zu Leide zu thun. 21, 84; Wie mächtig gewisse s–e Eindrücke sind, wenn sie sich an sinnlichen gleichsam verkörpern. 185; In ihm selbst mochte der Begriff des s–en und sinnlichen Menschen wohl ein Ganzes ausmachen. 22, 378; 26, 317 etc.; Adel ist auch in der s–en Welt. M. 1, 358.; Das s. Schöne und Große. 32, 156; 2, 57; Von der höhern körperlichen und s–en Vollkommenheit der Griechen. 34, 123. —
b) prägn. = s.-gut, Ggstz.: un-s., z. B.: S–e und un-s–e Menschen, Handlungen, Thaten etc.; Die s–e Sinnlichkeit. 27, 423; Und s. selbst blieb ihre Leidenschaft. 508a; S–keit ist Freiheit; nur der freie Mensch ist s., aber auch nur der freie Mensch kann un-s. sein. Par. 2, 160 etc.; Wo S–keit regiert. 13, 132; 22, 378; Es giebt eine indische, .. eine christl. Sitte (s. d. 2a), aber es giebt nur eine einzige, nämlich eine menschliche S–keit. B. 98 etc.; Das Un-S–e ihres Wandels. 31, 138; Die Gemälde stellten .. so un-s–e Ggstde vor. 4, 58 etc.; Un-S–keit. 110; Un-S–keiten [un-s–e Handlungen] begehn etc.; Die Liebe ur-s. 1, 2, 330; Ich war die Ur-S–keit, ich war unsündbar. Verm. 1, 64 und — im Sinn von sittsam, s. d. —: Das lange Faltenhemd istüber-s. 12, 298 etc. —
sittlich (3b) machen. V. 132, gw. Zsstzg.: Ent-: unsittlich machen: Wie e–d und verderblich der russ. Einfluß. 2, 40; Gsp. 1, 10; Vat. 2, 110 etc.; Entsittlichung. Kath. 43; Ästh. 2, 264 etc. — Ver-: Versittlicht und vernünftigt unser Leben. Leb. 2, 284; Vat. 2, 109; Die v–de Gewalt seiner Kunst. 2, 279 etc.; Versittlichung. 317; 3, 171; T. 6, 443 etc. —
~sam, a.: 1) im Benehmen still und bescheiden sich in den Schranken des Anstands haltend und — solchem Wesen gemäß: Wollüstig nur an meiner Seite | und s., wenn die Welt sie sieht. 1, 35; Still und s. will ich stehn. 131; Fr. 5; Die be- scheidne Lerche dankt ..; so begnügt sich ein s–er Dichter etc. 12, 92; S. thun. M. 2, 238; S–e Rosen, stille Vergismeinnichtundbescheidene Veilchen. Luc. 270; 26, 179 etc.; Schlaue S–keit [der Koketten]. 284; Mit der strengen S–keit der priesterlichen Kleidung. 5, 23, S–keit und Anständigkeit. 15, 302 etc.; S–lich. 13, 27; 240 etc.; Zimperlich und über-s. etc.; Ggstz.: Un-s.: den Anstand verletzend, namentl. in Bezug auf Keuschheit. Reis. 3, 111; Eine sehr un-s–e Lobpreisung der Keuschheit. Dr. 2, 2, 305; Un-S–keiten. — 2) (veralt.)
~ung, f.; 0; –s-: a) s. sittig 2: Wann Morgenroth sich zieret .. | und s. sich verlieret | der nächtlich Sternentanz. 2, 274³¹ etc., s. —
b) einen angenehmen Eindruck machend etc.: Ihr Stimmlein so artig zu führen und s. zu ändern. 3, 611²¹ —
in Zstzg.: Ge-: Civilisation; der Zustand des Gesittet-Seins und -Werdens: Wachsende G. Humb. 318; 75; K. 2, 72; Einst waren sie [die Klöster] Sitz der G. 4, 247; N. 2, 101; 148etc. — Über-: Übercivilisation, Überbildung. Nat. (55) 3b etc.
Anm. Sitte, goth. sidu, ahd. situ, mhd. sit(e), m., so noch (s. 1) nhd.: Sitt und Sitten, m., z. B. Beides 144b; Ich hab auch den Sitt [3 = Sinn etc.]. 2, 78ē etc. und (vgl.: Sitt- und tugendreich. 11, 111). Über den Stamm s. nam. 6, 157; dazu ahd. situlih (sittlich); situsam (sittsam); sitig (sittig); situhaft (sitthaft) etc.; dagegen gehört Sitter wohl zu sitzen; Sittich (s. d.), mhd. sittich, stammt aus dem gr. 7τος, Géττcoς.
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