Neigung
Nēīgung, f.; –en; –s-:
das Neigen und Geneigtsein (Inklination): 1) die geneigte Lage (s. neigen 4a): N. nennt man den Winkel zweier Ebnen gegen ein- ander. So ist die Ekliptik gegen den Äquator um 23⁰ 28“ geneigt und die N. der Merkursbahn gegen die Ekliptik beträgt nahe 7⁰. 798; N. der Magnetnadel, der Winkel, um den die Richtung einer freischwebenden und im Gleichgewicht stehenden Magnetnadel gegen die Horizontalfläche geneigt ist; N. [Senkung] eines Terrains; N. [Gefäll] eines Wassers etc. — 2) das körperliche Neigen, z. B.: Durch Neigung des Hauptes seine Zustimmung zu erkennen geben etc., nam. = Verbeugung (s. d. und Neige 1), bestimmter: Ver-N. — 3) das innre Geneigtsein zu Etwas, das zu Etwas hinneigende Streben danach (s. neigen 4c u. vgl. Hang 2, Trieb, Anlage 3 etc.), z. B.: Der Kranke hat N. zum Erbrechen etc., auch von Sachen (mehr od. minder personif.): Das Kalium hat eine so große N., sich mit dem Sauerstoff zu verbinden, daß etc., nam. aber in Bezug auf das Gemüth (s. 4): die Willensbestimmung aus innrem Triebe: Die habituelle sinnliche Begierde heißt N. Anthr. 201; Die Fertigkeit des Gemüths, das Gute von einer gewissen Art vorzüglich zu begehren, heißt N. Gewohnheit erzeugt natürliche und Übung künstliche Fertigkeiten, also auch N–en. Ist der Grad der Fertigkeit den Kräften oder das Objekt den Absichten der Natur nicht gemäß, so ist die N. unnatürlich und zwar in dem ersten Fall über-, in dem letzten widernatürlich. 4, 1, 105 etc.; Die N. zu stehlen, zum Diebstahl, zum Trunk etc.; Eine N. beherrschen, unterdrücken; Sich von seiner N. leiten lassen; Etwas aus freier N. thun; In der Aufhebung des Gesetzes, des kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christenthum eine freie N. gesetzt haben will. G. 1, 194; Gestaltete sich die Fortsetzung immer mehr zu einer Handlung der Pflicht, statt daß sie eine That freier N. hätte bleiben müssen. Köhl. 36 etc.; Vergebens strebst du .. des Menschen | schon entschiedenen Hang und seine N. zu wenden. 1, 268; Die N., dergleichen zu besitzen Verwandelte sich die N. in Leidenschaft. 26, 315; Trotz ihrer N. zum Handgemenge. 3, 469; Sie würden anfänglich aus Nothwendigkeit, hernach aus Gewohnheit, zuletzt vielleicht aus N. und Wahl sich immer weiter von Demjenigen entfernt haben, was etc. 7, 185; Des Privatstandes, welchen er seiner N. nach, allen andern vorziehe. 6, 30 etc. — 4) (s. 3 u. neigen 4b) die geneigte, liebevoll-wohlwollende Gesinnung gegen Jemand (od. Etwas), zu dem man sich hinneigt, sich hingezogen fühlt, z. B. (vgl. 1): Wie Linien verhalten sich die Seelen, | zwei haben N–en, zwei bilden Parallelen; | gleichgültig laufen die stets an einander hin, | jene begegnen sich zuletzt in einem Sinn. W. 6, 172, bestimmter: Hin-, Zu-N. und als Ggstz. Ab-N. (auch zu 3): Eine N. zu Jemand haben, fassen, gewinnen; N. besiegen ist schwer, gesellet sich aber Gewohnheit | wurzelnd, allmählich zu ihr, unüberwindlich ist sie. 1, 307 (vgl. 3, 336); Übersetzer sind als geschäftige Kuppler anzusehen . ., sie erregen eine unwiderstehliche N. nach dem Original. 3, 191; Es wächst Bewundrung und N. gegen ihn, je mehr man ihn kennen lernt. 4, 249; Er empfand gegen den Fremden, ob er gleich etwas Kaltes und Abstoßendes hatte, eine gewisse N. 16, 191; So wie auch in ihm eine stille N. gegen sie aufzukeimen anfing. 209; Fand er lebhafte Spuren einer N. gegen Natalien in seinem Herzen. 17, 307; 19, 239; Verlust der N. macht mich zittern, | allein der Haß erschreckt mich nicht. 34, 335; Der Dilettantismus folgt der N. der Zeit. 31, 427; Ihre N. war zu einem Hang [s. d. 2] geworden etc. Jer. 3, 196; N–en haben die Götter, sie lieben der grünenden Jugend | lockigen Scheitel. 86b; Die N., das Vertrauen, | das uns dem Friedland unterwürfig macht. 333b; 492b; Sh. 2, 213; Zeit, da man bereits schon liebt, | doch noch der N. nicht den Namen Liebe giebt. 1, 86 etc., s. auch Vor-N.
Zsstzg. s. die von neigen, von Liebe etc., z. B.: Ab- [3; 4]: das Abgeneigtsein von Etwas, im Ggstz. der Neigung, Hin- und Zu-N.: Die frühere A. ist . . zu wirklichem Haß geworden. Ense Denkw. 6, 603; Wie hoch jede wahre Neigung zu schätzen sei in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und A. recht eig. zu Hause sind. G. 15, 33; Neigungen und A–en. 22, 186; 31, 434; Das Sonderungsvermögen verwirft wohl ohne A. und nimmt auf ohne Liebe. 39, 89; Schlegel Mißd. 94 etc., s. Un- und Vor-N. Oft mit abhäng. Präpos.: A. gegen Einen oder Etwas. Fallmerayer Or. 2, 43; G. 39, 220; 452; A. gegen das ihm Ungleichartige, Zu-N. zu Dem, was seiner Natur ist. H. Ph. 3, 262; FSchlegel GrR. 1, 262; W. 2, 77 u. o.: Verlangen nach Wohlbefinden, A. vor Schmerzen. Forster Voln. 27; 29; Die A. vor Autorität wird immer stärker. G. 39, 129; 227; L. 4, 411; W. 6, 31; Ihre A. vor den Bonzen. 7, 39 etc.; Eifersucht und A. zwischen den beiden Fürsten. 14, 31 etc. Minder gw.: Meine A. von allen Fehden. Heyne (H. 4, V); Er fühlt A. zu seiner vorigen Bestimmung. L. (Guhrauer Less. 2, Beil. 23). —
An-: das Anneigen, Hin-N.: Sie konnte sich eine besondere A. zu Jenem, dem sie dies Glück schuldig war, nicht versagen. G. 18, 290; 36, 329; Diese A. der Seelen gegen einander. Zschokke 8, 268; 288 etc. — Gêgen- [4]:
1) (vgl. Gegenliebe und Wechsel-N.) Neigung als Erwidrung der Einem zu Theil werdenden: Er gestand ihr seine Liebe und sie ihm ihre G. etc. —
2) ugw. st. Ab-N. Gerechtigkeit, entfernt von Zu- und G., | von Vorlieb’ und Mißlieb’ etc. W. 2, 117. — Geschléchter- [4]: s. Geschlechtsliebe: Weil die G. doch allen den übrigen Reizen endlich zu Grunde liegt. SchE. 62 etc. — Hāūpt-: hauptsächl. Neigung, nam. [3], Gegensatz Neben-N., s. auch: Kopf-N. — Hín- [3; 4]: Die H. zur italiänischen Poesie. 118; Eine H. zu Jemand haben etc. — Kópf- [2]: Eine freundliche K. Erb. 1, 94. — Līēbes- [4]: Die ersten L–en einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. 20, 205. — Līēblings- [3]: eine vor andern herrschende und begünstigte Neigung, Schoß-N. (s. d.). — Míß- [3; 4]: eine Neigung, die nicht statthaben sollte. — Nêben-: s. Haupt-N. — Partēī- [3; 4]: parteiische, auf Parteinahme beruhende Neigung: Seine reife Erwägung drängte sich selbst seiner P. vor. Denkw. 6, 110. — Schōß-: Lieblings-N.: Eine zarte Schonung der gegenseitigen Sch–en walten zu lassen. M. 1, 160; 4, 195; Weil er dieser oder jener Sch. fröhnt. Giaf. 68; 119 etc. — Über-: das Sich-Überneigen: Als Folge einer nicht wahren Gegenläufigkeit, sondern einer Ü. der Achse ihrer an sich rechtläufigen Bahn. EE. 26. — Un- [3; 4]: das Nichtvorhandensein von Neigung, versch.: Ab-N.: Es ist kein Widerwille, der erregt wird, aber es ist gar kein Wille, keine Ab-N., aber Un-N. Zelt. 2, 21. — Ver- [2]: Indem sie sich tief verneigte . .. Er fand die V. sehr am Platze. 18, 70; Wir schieden, die Fremden mit V–en, die Hausfreunde [Goethe’s] mit Bücklingen. Leb. 1, 168 etc. — Vōr-:
1) [1] das Vor-, Vorüberneigen, Vorüber-N.: Durch die V. des Oberkörpers geräth der Bergabgehende ins Stürzen etc. —
2) [4] vorgefaßte oder vorherrschende Neigung, vgl. Vorliebe: Ver. 44; Reis. 2, 61; Lut. 2, 207; Mit möglichster Verzichtung auf eigene Vor- urtheile oder Vor- und Ab-N–en. 1, 1, 168; Keiner V. oder Ab-N. Gehör zu geben. 32, 269; Ihre V. für Athen. 13, 49, seltner: V. zu etc. Spr. 40. — Wéchsel- [4]: wechsel-, gegenseitige Neigung: 4, 257; Mar. 1, 43; 666b etc. — Zū- [4]: s. den Ggstz. Ab-N. (und Gegen-N. 2): das Zugethansein aus Neigung: Eine Z. zu Jemand haben, hegen, fassen etc.; Daß mein Herz gegen ihn von Z. wallte. A. 1, 162; Den Prinzen, für den er bei allen seinen Schwachheiten eine Art von Z. fühlte. 6, 77; 2, 53; Bei aller seiner Z. zur Sache des Beklagten. 14, 25; Sich in der Z. ihres Prinzen festzusetzen. 5, 190 etc. Veralt.: Z. auf Etwas haben. 2, 440. — Zusámmen- [4]: vereinigende Neigung: Die gegenseitige Z. der beiden Geschlechter. 1, 265 etc.
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