Faksimile 0361 | Seite 359
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Gemuth
I. Gemúth, n., –(e)s; –er, (–e); –s-:
das Kollektiv zu Muth (s. d. und vgl. Benecke 2, 257b ff. und Wackernagel Gloss. 230): 1) das innre (oder seelische) Gefühl, oft auch = die Seele, in Bezug auf ihr Gefühl und Wollen, oder = das Herz, das Jnnere, als Sitz dieses Gefühls, wie auch zur Bez. einer Pers. in Bezug auf ihr inneres Gefühl und die Kundgebungen desselben (vgl. Geist 2k und in b das erste Bsp.), oft gegenübergestellt dem Denk- und Erkenntnisvermögen, so dem Geist, Verstand, Scharfsinn etc. (s.: Mit dieser geistigen Wärme die Welt in sich und sich in der Welt vernehmend heißt der Charakter G. und Dies giebt ihm zu der Schneide die Innigkeit etc. Vischer Ästh. 2, 198 etc., vgl. Gemüthlich 2): Jemandes G. erregen, bewegen, verletzen etc.; Gut von G. sein, ein gutes G. haben etc., auch: Ein gutes G. [Jemand von gutem G.] würde anders gehandelt haben; Ein böses G.; Ein (un)beständiges, edles, empfängliches, festes, frommes, gottergebnes, großes, lebhaftes, niedres, offnes, reiches, reines, ruhiges, sanftes, schwaches, starkes, stilles, tiefes, trübes, unschuldiges, verschloßnes, weiches, wildes, zorniges, zufriednes G. etc.; Um den schwachen G–ern keinen Anstoß zu geben = den Schwachen etc. Prägnant: Jemand hat G. (s. gemüthlich 2), ein gutes und lebhaft erregtes, das, sein Thun bestimmend und sein ganzes Sein durchdringend, gleichgestimmte G–er anspricht; Er hat einen scharfen Verstand, aber kein G. etc.; ugw. verkörperlicht (s. Geist 2c): Begürtet die Lenden eures G–s. 1. Petr. 1, 13 etc. Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem G–e. Matth. 22, 37; Ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem G–e [Jnnern] . .. So diene ich nun mit dem G–e dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde. Röm. 7, 23; Erneuert euch im Geist eures G–es. Eph. 4, 23; Besser niedrigen G–s sein mit den Elenden, denn Raub austheilen mit den Hoffährtigen. Spr. 16, 19; Der Herr ist nahe bei Denen, die zerbrochenen Herzens sind und hilft Denen, die zerschlagenes G. haben. Ps. 34, 19; Sei nicht schnelles G–s zu zürnen. Pred. 7, 10 etc.; [Hagedorn’s Lied ist] voll Refrains, welche dadurch, daß sie immer wieder passend sind, den Verstand angenehm beschäftigen, Alles Reize, welche das deutsche Lied, in welchem nur das G. seinen Ausdruck sucht, verschmähen kann. Danzel 125; Der mit verhärtetem G–e | den Dank erstickt. Gellert 2, 122; Welche . . besonders Dem, was der Deutsche G. nennt, dem innern Gefühl, worin alle gutartigen Menschen übereinkommen, d. h. also der Humanität ganz eig. zusagen solle. G. 33, 83; Die Deutschen sollten in einem Zeitraume von 30 Jahren das Wort G. nicht aussprechen, dann würde nach und nach G. sich wieder erzeugen; jetzt heißt es nur: Nachsicht mit Schwächen, eigenen und fremden. 3, c 359 196; Welchen der prophetische Theil der heiligen Schriften am meisten zusagte, indem er die zwei entgegengesetztesten Eigenschaften des menschlichen Wesens zugleich in Thätigkeit setzt, das G. und den Scharfsinn. 21, 74; Er hat kein G. gegen [oder für] uns Niederländer, sein Herz ist dem Volke nicht geneigt, er liebt uns nicht. G. 9, 142; Solche düstere Betrachtungen hätten sich in den G–ern [= im G.] deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können. 22, 161; Ein treues G. macht Jeden schön. Gutzkow R. 4, 320; Ein G. treu und köstlich wie Gold. Hebel 3, 397; Laß dich nicht von Gram und Furcht besiegen, | den Geiern des G–s. EKleist 1, 23; Die Geister zu erbittern, die G–er zu verhetzen. König Jer. 3, 298; Bald erhob sich sein G. und sank dann | wieder muthlos nieder bald. Platen 4, 290; Halbgereifte | Nachtgedanken wälzt’ er im G–e. 295; Was habt Ihr im G. [im Sinn, vor, s. 2]? Sch. 541a; Wir sind jetzt ein Haupt und ein G. [unser Denken, Fühlen und Wollen ist eins]. 505a; Sein wild, erschrecklich, eisenhart G–e. FSchlegel Al. 11; Ein niedrig, schlecht G. nur strebt nicht höher. Schlegel Sh. 8, 43; Dem edleren G–e | verarmt die Gabe mit des Gebers Güte. Haml. 3, 1; Ich habe wohl an ihnen gekühlt mein Herz und zorniges G–e. Simrock Gudr. 125; Sänftet euer G–e! [Zorn etc.] Nib. 158; Ahnt .. als Einheit im Zerstreuten | unsres Dichters ganz G. Uhland VII; Über die G–er freier Menschen herrschen. W. 31, 508; Wo man das Gold des G–s ausgiebt in Gemüthlichkeitsmünze, | findet man Kreuzer genug, aber das Gold es ist knapp. Xen. d. Gegenw. 171 etc.
a) Alterthüml. Mz.: Daß sie unsere G–e mit bloßer Hoffnung speiset. Schaidenreißer 6a; Von englischen G–en | ein vollbewohntes Haus. G. 4, 107 etc.
b) Zsstzg. z. B. (s. 3): O was hast du für ein G–chen, du Engels-G. [Person mit Engels-G.]. König Kl. 1, 313; Im tiefern Frauen- G–e. Heine Lut. 1, 41; Die wirken könnten auf sein Milch- G. [weiches etc.]. Böttger Byr. 191 etc. Selten nhd.: Das Lob ihrer Schöne vernahm man weit und breit | und auch ihr Hoch-G. Simrock N. 46, hochgemuthes, edles Wesen etc.
c) abhängig von Präpos., z. B.: Etwas dringt tief ins G. etc.; Etwas geht Einem zu G–e (z. B. Leibnitz Erm. 1), berührt sein Gefühl innig, liegt ihm am Herzen; Einem Etwas zu G–e führen, es ihm eindringlich ans Herz legen, oder auch nur: es ihn lebhaft empfinden machen; Den Franzosen in diesen Korrespondenzen zu G–e zu führen, daß eine neue Zeit angebrochen. Danzel 334; G. 4, 221; W. 11, 13 etc., auch: Sich Etwas zu G–e führen, es beherzigen, es sich innerlich zu eigen machen; Eine Anmerkung . ., die sich Herr Wagner wohl hätte zu G–e führen können. Vogt Köhl. 61 etc.; Sich Etwas zu G–e ziehn, vgl.: zu Kopf ziehn, zu Herzen nehmen, sich davon unangenehm berührt finden und es gar nicht aus dem Sinn lassen etc. (s. Kant Anthr. 177), z. B.: Wir sind auch betrübt, wir ziehen’s uns nur nicht so zu G–e. G. 8, 163; Wir wollen uns unsere leidigen Schwestern im Bilde so wenig zu G–e ziehen als die in der Gesellschaft. 19, 354; Zieh dir, was er sagt, nicht zu G–e. W. Att. M. 2, 1, 86 etc. Danach auch scherzh., übertr.: Sich Etwas (körperlich) zu G. führen oder ziehn, es sich aneignen, zu eigen machen, von Speisen etc.: sie verzehren, z. B.: Weil er einmal den Dieben aufpassen sollte .. und die Gelegenheit benutzte, sich selbst einen Sack mit Kaninchenfellen zu G–e zu führen. Bucher (Nat.-Z. 8, 453a); Weil ich auch bin zu essen hier, | mir das Lerchlein zu G–e führ. 7, 180; Einen Schoppen oder einen halben sich zu G. geführt. Gotthelf Sch. 94; Heine Rom. 306; Die Gemälde sind angekommen, den Waterloo ziehe ich mir zu G–e und meine Mutter den H. Roos. Merck’s Br. 2, 187 etc., wobei nicht an plattd. gemoete (Begegnung) zu denken ist, wie Benecke 2, 241b etc. annimmt. 2) (veralt.) Gesinnung, Absicht, Wille: Jst es euer G. 2. Kön. 9, 15; Daß solches euer G. nicht sei. Luther 6, 6a; Ihro Fürstl. Gn. meines Herrn G–e anzumelden. Schweinichen 2, 7 etc., s. Schm. 2, 657. 3) (veralt.) Muth (3), Beherztheit: Entfiel mir alles mein G. Schaidenreißer 44b; 37b; Mir Keckheit und G. verleihen. 57b etc.; Solch an- ererbt teutsch Adlers-G. Fischart (Wackernagel 2, 64 Z. 21).