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küssen OMüller
II. Küssen, tr.:
einen Kuß (s. d.) oder Küsse geben:
1) Jemand küsst Etwas (z. B. den heimischen Boden) oder Einen, ohne Zusatz gw. auf den Mund, auch in Gedanken, aus der Entfernung, z. B. brieflich: Ich küsse das kleine Ding [dein Töchterchen]. Forster Br. 1, 789 etc. Jron.: Dem Ritter, der bisher die Nebenbuhler alle | die Erde k. hieß. W. 20, 338, sie zu Boden warf, vgl.: ins Gras beißen u. s. 2.
a) Sie k. einander oder sich (s. d. †), sich unter oder mit einander; Er küsst sich mit ihr; auch ohne Obj.: Jch will k.! k., sag’ ich. G. 4, 106; Nun fort! du hast genug geküsst etc.; nam. oft im Infin.: Das K. des Hassers. Spr. 27 6 etc.; Er ist zum K. [vortrefflich, prächtig], z. B. Wes Dian. 2, 3; Die Epigramme . sind zum K, zum Verschlingen. JvMüller 6, 88 etc., vgl.: Die Mutter hätte ihn küssen mögen für die Gegenpille. Heinse Hild. 1, 315 etc.
b) ferner: Jemandes Mund, Lippen, Wange, Stirn, Augen, Hand, Fuß, Pantoffel, Schuh, Kleid, den Saum seines Kleides, die Spur seiner Tritte, sein Bild, etwas von ihm Geschriebenes k.: Sie küssete seine Füße. Luk. 7, 38; Küss’ ich den letzten | Saum seines Kleides, | kindliche Schauer | treu in der Brust. G. 2, 65 etc.
c) statt des Genit. (b) auch persönl. Dat.: Einem die Hand (Sir. 29, 5), den Mund, den Fuß, Pantoffel, Saum des Kleides k. etc.; „Tage, wo ich für einen Pfennig der kleinen Hus den H[inter]n geküsst hätte.“ .. Zu so einer Demuthshandlung. . . „Es ist ein Unterschied zwischen „H–n k.“ Es giebt ein eigentliches und ein figürliches. G. 29, 226 etc. Auch hier ohne Nennung der Pers., z. B.: Süperb! (indem er die [eignen] Fingerspitzen küßte). Prutz Mus. 2, 347 etc.
d) ferner: Jemand auf Stirn und Wangen k., wobei aber mehrere Nüancen möglich sind, nämlich: Einen k., wo? auf der Stirne oder: Auf die Stirne k. und zwar auf wessen Stirn oder wem auf die Stirne? ih m, z. B.: Küsst dem Mato er ins weiße Antlitz. Talvj 2, 141 etc., häufiger aber anakoluthisch (s. Herrig 15, 60 ff. und beißen, Anm. 1.) Einen auf die Stirn (Gutzkow R. 4, 63), ins Antlitz, auf den Mund (Freiligrath SW. 1, 319), Kopf (Freytag Soll 3, 292) k.; Bis du .. | meinen Windhund auf die Augen küssest, | mein arabisch Roß auf seine Hufe. Talvj 2, 138 etc. Doch sind die Wendungen: Einen auf die Hand, auf den Fuß, auf den Pantoffel etc. k. unüblich.
e) nam. dichter.: Einen Kuß oder Küssek., z. B.: Daß er der Liebe Kuß . . k. werde. Alxinger D. 189; Daß die Eine .. den Vermählungskuß mir küsst. B. 73a; Küßte den Versöhnungskuß. 6a; Mit dem Kusse, | welchen sie jüngst dem Adonis, dem matt ausathmenden küßte. V. Mosch. 3, 70; Versüßt durch einen dieser Küsse, | die sie allein nur k. kann. W. 12, 44; 22, 260; 23, 58; Zschskke 8, 146 etc. So auch: Sie küsst ihm einen Kranz von Küssen um das ganze schöne Gesicht. Geßner 2, 97 etc.
2) das Subj. kann nicht bloß, wie in 1, eine Pers. sein, z. B. auch: Die Muse küßte ihn weihend bei der Geburt; Ein gar von Gott geküßtes Kind. Chamisso 5, 193; Als der Schöpfer sie erschaffen, | .. küßte er die schöne Seele [des Dichters]. .. Alle Flammen | seiner gottgeküßten Seele. Heine Rom. 221 und 225 etc., oder auch Thiere: Tauben schnäbeln und k. sich etc., sondern zunächst Personificiertes, dann aber auch in allmählichem Ubergang, indem der Begriff der Pers. zurücktritt und nur der der innigen Berührung bleibt, etwas Sachliches, zumeist in gehobner Rede, z. B.: Daß Güte und Treue einander begegnen und Friede und Gerechtigkeit sich k. Ps. 85, 11; Ein Rauschen von den Flügeln der Thiere, die sich an einander küsseten. Hes. 3, 13 mit der Randglosse: d. i., sich oben anrühreten oder sich schwungen gegen[ein]ander; Ihr Auge weilte auf ihm, ihre Blicke küßten sich. Auerbach Ab. 174; Eine Feuersäule küsst dies Dach, berührt jenes und aus jeder Berührung, aus jedem Kuß wächst eine neue Flammengeburt. Gutzkow R. 9, 494; Der Sohle, die verehrend | das blühende Gestade küsst. Gottschall G. 16; Schwarzes, nie vom Himmelslicht geküßtes Dunkel. FrMüller (Matthisson A. 11, 268); [Berge,] von meines Winkes Allgewalt | entsesselt, k. Thal und Triften. Sch. 17b; Die Fluthen küßten des Kleides Saum. Schmidt-Phiseldeck 4; Zephyr’, deren Hauch das Veilchen küsst. Tieck Cymb. 4, 2; Die Nebel ziehen sacht, vom Strahl geküsst. A. 2, 237; Wen nie in stiller süßer Nacht | die Einsamkeit geküsst. Gs.N. 1, 130 etc.
a) Math.: K–de oder oskulierende [berührende] Kurven, z. B. Kreise etc.
3) faktitiv zu 1 und 2:
a) Einen athemlos oder außer Athem (b: Musäus M. 5, 92) k., ihn durch K. athemlos machen, nicht zu verwechseln mit der gleichlautenden Wendung, wenn „athemlos“ etc. sich nicht aufs Obj., sondern aufs Subj. bezieht; Sich heiß, warm, roth k.; Sich matt k.; Sich satt k., s. ab-k.; Er küßte mich so roth wie Feuer. V. 3, 155; Die Sonne küßte [2] dem Knaben die Wange röther. Auerbach Ab. 234 etc.; Jemand wach (Baggesen 1, 238) oder aus dem Schlaf (b: W. 3, 177), (auf-)k.; Mich weckt’ in Deiner Umarmung die Sonne. | Küßte nur diese mich wach? Baggesen 4, 243; Es küsset in der Frühe das Morgenroth mich wach. Geibel 89 etc.; Im Liebeswahnsinn küsset sie die Wange, | die rosenrothe, ihres Lieblings wund. Beck Fahr. 4, 19; Freiligrath Ven. 8, s. zer-k. etc.; Seine schwarzen Wimpern küsst’ ich zur Ruh. SW. 4, 157; Stoßt an und küsset treu | bei jedem neuen Bunde | die alten wieder neu. G. 1, 95; O küß mich zu Tod! Hartmann Pet. 201; Küßte ihn wieder still. HKleist E. 1, 331; Frei und heilig! wunderbar | küsst dies Wort die Seelen offen. Meißner Gd. 53, vgl. auf-k. und: Ich küsse deine Wunden zu. 51 [mache sie durch Küsse sich schließen, heile sie]; An den Silberlocken dieses Menschenfreundes küßte Bürger seinen entweihten Genius wieder rein.
OMüller Bürg. 6; Küß an ihren warmen runden Wangen | deine kalte Hoffnung wieder warm. Tiedge Ep. 1, 285 etc.; auch:
Einem holden Kinde, | das .. durch feuervolle Küsse | zum Horaz mich k. [machen, begeistern] müsse. Uz 2, 33 etc. b) mit Ortsveränderung bezeichnenden Präpos.: Einem den Kummer aus dem Herzen (fort), ihm Trost ins Herz (hinein) k.; Das bebende Ja von den Lippen Recha’s k. Auerbach Dicht. 1, 260; Drückte mich noch einmal an sein Herz und küßte seine ganze Seele auf meine Lippen. Heinse A. 1, 137; Küßte ihm den Ernst von der Stirn. Klencke Stolb. 1, 138; Klinger Giaf. 431; Sie küßte mir mit feurigen Lippen den Tod auf den Mund, daß ich zu sterben meinte. O Müller Bürg. 375; Ich will ihm den Todesschweiß von der Stirn, ich will seinen letzten Seufzer ihm vom Munde k. Pfeffel Pr. 3, 35; Wenn mein Mund dich zweifelnd sucht, | so küss’ es [präg’ es k–d] mir ins Herz. Rückert 1, 365; Wer dich erhob, | küsst seinen Mord auf deine Wange. | Du stirbst durch ein vergiftet Lob. Tiedge Ep. 1, 80; Küsse [sauge] denn aus ihrer schönen Jugend | Trost und Linderung für deinen Schmerz; | aber küss’ [flöß] auch deine ganze Tugend | und den Muth zu dulden in ihr Herz. 278 etc. c) seltner: Dies süße Mädchen, welches mir | den Himmel küsst [k–d bereitet]. B. 12a.
4) Dazu imperat. Hw., nam.: Der Geldgauch oder Küssden-Pfennig. .. Der Pfennigküsse r. Stumpf 406a, auch: Ein Küssenpfenning. SFrank LastJ. 2a etc., vgl. Kissen, Anm. Küssung, unüblich.
Zsstzg. nam. zu [3] zahlreich und mehrdeutig nach den Bedd. der Vors. z. B.: Áb-:
1) Sie am Schopf fassen und recht derb a. Mörike N. 462, abherzen; Sich a., sich satt oder sich matt küssen.
2) (Einem) Etwas a., z. B. die Hand. Echtermeyer 2, 645, s. weg-k.; Den Kuß, den ich dir abgeküsst. Heine Lied. 122; [Lüfte,] küsst ihr ab die Gluth. Rückert 1, 342; Die Nymphen, sie küssen | die Hitze mir ab. Stolberg Gd. 190; Dem schweigenden Dolmetscher des Herzens [dem Munde] das süßeste Bekenntnis a. VWeber 2, 77 etc.; Einem Etwas a. und abschmeicheln, ês durch schmeichelnde Küsse von ihm erhalten, s. ent-, er-k. Ferner: Thränchen, komm herab! | meine Lippe küsst dich ab. Göckingk Lieb. 21; Ich küsste den Staub nicht ab von sterblichen Füßen [schmeichelte]. Eul.Schneider (Monatbl. 1, 574a). An-: Einem ein Gelüst gleichsam a. Bagge- sen 4, 195, durch einen Kuß einflößen; s. auf-k. 4. Āūf-:
1) wach küssen: Dem Ritter, der seine Geliebte aus dem Tode a. wollte. Heine Reis. 3, 214 etc., s. empor-k.
2) küssend öffnen, z. B. eine Knospe: [Hauch der Freiheit,] o küß sie auf zu Duft und Glanz und Schein. Freiligrath 2, 128; Liebe [hat] die zugeschloßnen Kelche aufgeküsst. Körner 126a; Kosegarten Po. 2, 254; Matthisson A. 11, 127 etc.; Als würden seine Wunden | von lieben Lippen aufgeküsst | und thäten wieder bluten. Heine Lied. 336 etc.
3) küssend aufsaugen, z. B.: Thränen. Alxinger D. 92; Arnim 384; Die Thräne küsst | meine Lippe nicht auf! Thränen des Wiedersehns, | wenn entküss’ ich den Wangen euch? Matthison A. 8, 69; Stolberg Gd. 32; W. 10, 148 etc.; Ein Tropfen Thau, den der erste Sonnenstrahl aufküsst. Tieck 8, 62; Aufzuküssen seinen letzten Hauch. Lenau 2, 202; W. 3, 195 etc.
4) mit Dat.: Ihrer Schleife habe ich einen schönen guten Morgen aufgeküsst [mit einem Kusse den Gruß aufgedrückt]. G. Stein, 1, 192; Philipp küsste dem guten Mönche seinen Dank auf. VWeber 2, 297, vgl.: Als er der Mutter die gute Nacht anküßte. IP. 54, 121; ferner: Stimme möge ein Gott meinen Lippen a. [durch einen aufgedrückten Kuß verleihen]. Chamisso 5, 161 etc. Āūs-: zu Ende küssen: Trink aus! küss’ aus! von dannen! L. 1, 48. Be-: mit Küssen bedecken, viel küssen: Einen heil’gen Splitter . ., den sie beküsset und beleckt. 114; Was nur begegnet, zu beherzen, zu b. 5, 235 (Logau), s. 308; Daß Seel’ und Seel’ auf Rosen sich b. Lohenstein Ros. 82; Mühlpforth Hochz. 5 etc. I. Dúrch-: Die Mädchen der Reihe nach durchgeküsst. e II. Durch-: Die durchküßte Nacht (vgl. ver-k.). Lohen- stein Cleopr. 13. Empōr-: durch Küsse emporbringen, erheben, vgl. auf-k. (1): Ich hätte dich aus dem Pflanzenthume | erlöst, emporgeküsst, o Blume, | empor zu mir, zum höchsten Leben, | ich hätte dir eine Seele gegeben. Heine Verm. 1, 171. Ent-: Einem Etwas e., küssend wegnehmen, fort-k. (s. ab-, auf-k.): Dann entküss’ ich euch, [Thränen], | dem blauen Aug’. Hölty 50; W. 26, 5; Kein Kind entküßte den gelähmten Lippen | den letzten Rath, den letzten theuren Segen. Kosegarten Rh. 3, 368; Oft entküsst’ ich dem ersten Veilchen .. die lichtere Tropfe. Schubart 1, 41; Tiedge 1, 181; 187 etc. Er-: durch Küssen erlangen, gewinnen: Hätt’ ich sie [die Schöne] nicht erküsst, so hätt’ ich sie ersungen. Gleim 3, 51; Die möchte mich Ganzen ganz e. und fressen. G. Stein 1, 68; Jahn V. 176; IBMichaelis 286. Fórt-:
1) weg-k., s. ent-k.: Ich will dir küssen, Heinrich, | vom Auge fort die Nacht. Heine Lied. 168; [Die Schmerzen] fortzuküssen, fortzuscherzen. JGJacobi 1, 54; Habe Erbarmen | und küß mir die zagende Seele nicht fort. Meißner Gd. 61 etc.
2) fortfahren zu küssen, weiter küssen. Hêr- etc.: Voll Unbeständigkeit hast du herumgeküsset. Zachariä 1, 123; Athme, Lyde, neues Leben, | küsse Wonne mir hinein [in die Lippen]. Stolberg Gd. 311; [O Tod,] küsse von der heißen Lippe | hinweg mir das entsetzensvolle Sein! MBeer Arr. 158; Mendelssohn 5, 648; Hatte der Sonnenstrahl die letzten Flocken hinweggeküsst. Gutzkow Zaubr. 4, 8. Nāch-: nachträglich, später küssen. JP. 1, 18; versäumte Küsse nachholen etc. Ver-:
1) mit Küssen verbringen: Wo wir .. | des Jahres schönsten Theil v. Pfeffel Po. 3, 135.
2) (mundartl.) unmäßig küssen: Nahm sein Weibchen bei den Ohren, verküßte, herzte, kitzelte sie. Mörike Moz. 25; Haben ihn gleich so viel verk u sst und verdruckt etc. Spindler Stadt 1, 53. Vorbēī-: ver-k. (1), unter Küssen die Zeit vorübergehn machen: Sie träumen, scherzen, singen, küssen | ihr Dasein unbemerkt vorbei. W. 3, 67. Wég-: hinweg-, fort-k. (s. ab-, auf-, ent-k.): Ist so galant, | daß er schon weggeküsst hat seine Hand [s. ab-k.]. V. Sh. 2, 519; Die Sonne küsst den Thau weg. Heinse A. 1, 84; Körner 149b etc.; (Einem) die Thränen (Göckingk Lieb. 120; Pfeffel Po. 3, 25; 51 etc.) von Wangen und Busen (W. 21, 268), vom Kragen (10, 144) w.; Einem einen Namen vom Munde (Benedix 10, 61), einen Wunsch (Böttiger Sab. 56), ein Geständnis (OMüller Bürg. 114) von den Lippen w.; Sie küsst [mir] alle Launen weg. Gutzkow R. 8, 465; Er küsst’ ihr .. | schnell die bebenden Blicke weg. Kl. Od. 2, 227 etc. Wīder-: Einen w., ihm Küsse zurückgeben: Jch küßte sie und sie mich wieder. G. 1, 17; Nur der Mund kann wiederküssen. L. etc. In der Schreibweise mit „ie“ nicht geschieden von wieder-k. = nochmal küssen, s. Sanders Orthogr. 46. Zer-: entzwei küssen: Er zerküsset ihr herrisch | oft mit stechendem Kusse die Wängelein. V. 1, 104; Er .. zerdrückt, zerküsset ihr | die kleine Lilienhand. W. 11, 219 etc. Zū-:
1) durch Küsse schließen: Jch küsse | dir die Äugelein zu, die ganz mir die Seele bezaubern. V. 1, 113; Meißner Gd. 51, s. [3a].
2) beherzt, dreist küssen, nam. im Imperativ. Zurück-:
1) Küsse z., zurückgeben, s. wider-k. 2) durch Küsse in Etwas zurück versetzen: Sie küsst’ ihn bald ins Leben ganz zurück. W. 10, 86.