vergessen
Ver~géssen, tr., rcfl.:
vergaß, vergäße; vergessen; vergisst, vergisst: vergiß: aus dem Gedächtnisverlieren, nicht darin behalten; an Etwas nicht denken: 1) mit abhäng. Satze: Hatten sie verg., Brot mitzunehmen. 16, 5; Wohlzuthun und mitzutheilen, vergesset nicht. 13, 16; Vergiß nicht, wie sauer du deiner Mutter worden bist. 7, 29 etc.; Du scheinst ganz zu verg., mit wem du sprichst [denkst nicht an die schuldige Rücksicht, setzest sie außer Augen] etc., s. 2b. — In der Volksspr. auch und veralt.: Daß sie ihre Hausthür offen vergaß [zu schließen vergaß, sie aus Vergessenheit offen ließ]. Prof. 48. — 2) mit abhäng. Accus.:
a) Etwas verg.; Ich will deine Befehle nimmermehr verg. 119, 93; Ich werde Das nie verg., wie er .. sprach etc. 9, 15; Wenn sie .. Alles vergisst und im Augenblick sich an Alles erinnert. 15, 14; Wollen Sie sich nicht gefälligst einen Knoten ins Schnupftuch machen, damit Sie’s nicht verg.? Lenz 115; Daß wir im Deutschen .. den höchsten Grad vonlanger, verjährter und vertrauter Bekanntschaft mit einer Sache dadurch ausdrücken, daß wir sagen, Das hätten wir längst verg. 5, 238; Ich habe ihn [den Preis] rein verg. 235; Das ist lang verg. [s. b]; Der Brief ist verg. worden [nicht besorgt]; Ich habe das Buch dort verg. [liegen lassen] etc. —
b) Einem Etwas verg., es ihm nicht gedenken (im Guten oder Bösen): Ich werd es dir nie verg., wie (edel oder wie schändlich) du an mir gehandelt hast; Wie könnt’ ich ihm diese Kränkung je verg.?; Ich will’s ihm vergeben, aber verg. kann ich’s (ihm) nicht etc. —
c) Einen verg., nicht an ihn, nicht an seine Angelegenheiten etc. denken; Er hat den verstorbnen Freund rasch verg.; Ich bin bei der Austheilung verg. [nicht bedacht] worden etc. (s. 8b). — 3) Statt des Accus. (2) häufig der Genit.: Wenn ich gedenke, ich will meiner Plage verg. 9, 27; Meine Freunde haben mein verg. 19, 14; Mein ist verg. im Herzen wie eines Todten. 31, 13; Der vorigen Angst ist verg. 65, 16 u. o.; Wir müssen der Sappho verg. 1, 302; Ich will .. verg. dieser Schreckensstunde. 6, 257; Der Vögel Chor vergaß der Ruh. 1, 3; Hab ich des Gesetzes | und dieses Orts verg. [die Rücksicht dar- auf außer Augen gesetzt, vgl. 8c], so verzeih. 13, 151; Auf Reisen .. verg. wir eine Zeit lang der liebenswürdigen Gespielinnen. 19, 203; Unter den Waffen hat er jedoch der Wissenschaft nicht verg. 32, 217 etc. (s. 8b). — 4) Selten statt Accus. oder Genit. Präpos. (nach Analogie des Ggstz. denken etc.): Ich werde nie an den Morgen verg. Anserlesener Briefwechsel 1, 318. — Da verg. Sie nicht auf uns! Nobl. 1, 233; DTr. 1, 243; Er schien ganz auf die derben Fäuste des Exkanoniers verg. zu haben. N. 3, 159. — 5) Zuw. elliptisch ohne Obj.: Die Feuerböcke (ich vergaß) von Silber. Cymb. 2, 4 = ich vergaß, sie zu erwähnen etc., s. 1. — 6) Oft wird außer dem vergeßnen Ggstd. auch der erwähnt, der Einen beschäftigend und in Anspruch nehmend das Vergessen des andern bewirkt:
a) mit über (s. d. und vgl.
b) und Dat.: Über dem Anziehen .. habe ich verg. meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben. 14, 23; Er vergaß der Gegenwärtigen über seinen Betrachtungen. 16, 112; Wenn er nicht über der Welt sein eigenes Ich vergisst. 4, 279. So 2, 268; 478a; B. 2, 205; R. 1, 224; 1, 217; 2, 309; 1, 441; 698a; Br. 2, 164; JP. 58; 9, 98 u. A. m. — b) mit über und Accus.: Du darfst aber über die erste Antwort nicht verg. was du ohne Frage schon gewusst. 2, 21; Daß sie über Das, was in ihnen vorgeht, das Äußere ganz verg. B. 1, 769; Über das schöne Wetter haben wir bisher ganzverg., daß wir im November leben. 14, 213; 16, 128; So wird Eins über das Andere verg. 39, 231; Über das Bildchen vergaß er des Wagens. Jer. 3, 226 etc. —
c) Zuw. mit ob (s. d.): Ob deren er die ganze Welt vergisst. Ar. 9, 22, — oder vor (s. d.): Weßhalb sie gelegentlich vor Religion die Poesie vergaßen. 408; Vor einem fremden Leiden verg. großmüthige Naturen leicht den eignen Schmerz. W. 2, 348 etc.; ferner mit „für“: Vergaßen die Schriftsteller das gemeine Wesen für Privatvortheil. 1, 539. — 7) Jemand, Etwas lässt, macht Einen (zuw. minder korrekt: Einem. 736a), Etwas (auch im Genit., s. 3, z. B. 1. 41, 51, oder durch einen Satz ausgedrückt, s. 1. H. 2, 69) verg. 4, 153: 16, 116 etc. Auch ohne Pers.: Machte er seine Usurpation durch wahre Verdienste um den Staat verg. 1030a etc. — 8) refl.:
a) Etwas vergisst sich (s. d. †), es wird vergessen, man vergisst es: Jugendeindrücke verg. sich nicht leicht; Zu schwere Thaten sind geschehn, | die sich nie vergeben und verg. 497b etc. —
b) Jemand vergisst sich, sich selbst (s. 2c), z. B.: Er hat bei der Erbschaftsregulierung sich [sein Interesse] nicht verg. = sich gut bedacht dabei, für sich gesorgt. — Er vergisst über Etwas (s. 6a und 6b) sich selbst, ist davon so ganz in Anspruch genommen, daß er an sich nicht denkt; Das Kind, vom köstlichen Besitz befangen, vergaß sich selbst und des Verrathnen Loos. 4, 127; Er will, daß man an ihm ausschließlich Theil nehme ... und sich selbst über ihn vergesse. 32, 212 etc. So auch mit Genit. (s. 3): Blindlings überließ sie sich einer jeden Neigung .., wenn sie nur im wilden Genuß ihrer selbst verg. konnte. 16, 303; Schattenleben, das an dem Ufer Lethe’s v–d ihrer selbst, die Trauerschaar der Abgeschiednen feiert. 34, 158. Daher: Selbst-v–d. 13,7 (vgl. 11). —
c) Sich verg., außer sich gerathen und so die Schranken überschreiten, in denen man bleiben müßte: Hohe Königin des Himmels | .. halte deine Hand auf dieses Herz, | daß es der Übermuth nicht schwellend hebe, | denn leicht vergäße sich der Mutter Freude. 492a; Man reiße sie von hinnen oder ich | vergesse mich und thue was mich reut. 546b; Ich begreife, daß du böse auf ihn warst, aber wie konntest du dich so weit verg., ihn zu schlagen? etc. — 9) der Infin. als sächl. Hw.: Es giebt ein Verg. alles Daseins, ein Verstummen unsers Wesens, wo uns ist, als hätten wir Alles gefunden etc. H. 1, 73; Ein ewiges Verg. | bedecke das unselige Vergehn. 611b; Nur ihr vermögt den Kummer | in schlummerndes Verg. einzuwiegen. 28, 14 etc., s. 13. — So nam. früher: Etwas in Verg. (s. Vergeß) stellen. 51a; Vorr. 3a u. v. — Auch: In süßem Selbst-Verg. [s. 13]. 421b; Und zum alten Un-V. | kommt ein wachsendes Erinnern. Leb. 1, 177. — 10) der Jmperativ in einigen Verbindungen als sächl. Hw. zur Bez. von Pflanzennamen, z. B.:
a) Nimm Gottsvergiß oder Andorn [Marrubium vulgare]. Th. 33; bei Gotts-, Gutvergeß. —
b) nam. Vergißmeinnicht, Myosotis (mundartl. auch Veronica chamaedrys): Wenn sie ein blaues Blümchen bricht | und immer sagt: Vergiß mein nicht, | so fühl’ ich’s in der Ferne. 1, 154. Mz. uv., z. B:: Da waren Rosen und Vergißmeinnicht. 6, 87; Blaue Vergißmeinnicht. 15, 90; 3, 39; 4, 155 u. v.; auch im Genit.: Des Vergißmeinnicht Blau. 5, 291; 293 etc. Aber auch: Der Blüthenkelch eines Vergißmeinnichts. 2, 75; Die Vergißmeinnichts. Krieg 34 etc., seltner: Viele Vergißmeinnichte. Mensch 2, 97; Umblüht von farblosen Vergismeinnichten. 107; Die Vergißmeinnicht’ im Kranz. 2, 79; Unter lichten | Vergißmeinnichten. Ep. 1, 144; Durch Vergißmeinnichten [Accus.]. 132; Aus Immergrünlaub und Vergißmeinnichten. 1, 195 etc. So auch Verkl.: Vergißmeinnichtchen. — Seltner: Vergißnichtmein, | Tausendschön. A. 1, 27). — Auch Zsstzg. z. B.: Die himmelblauen silberblättrigen Alpenvergißmeinnicht. Th. 268; Mit dem Berg- vergißmeinnicht. Rasen-, Sumpf-Vergißmein- nicht etc. — 11) Das Partic. passiv, z.B.: Sich auf etwas V–es besinnen; Was sucht ihr mich heim, ihr Bilder, | die lang’ ich verg. geglaubt. Ob ich der Vorgezogenste oder der V–ste sein würde. 4, 310; Dessen Name ihm selbst verg. war. Jer. 1, 116 etc. und im Ggstz.: Die Zeit ist ihm noch un-verg. 1, 5 etc. (s. 12d). — 12) Das Partic. verg. mit aktivem Sinn, nam. zur Bez. einer dauernden Eigenschaft, stärker als das nur auf einen besondern Fall sich beziehende v–d:
a) ohne Zusatz (vgl. vergeßlich): So verg. ist er auch selbst im Augenblick der Aufwallung nicht gewesen. Sh. 2, 256; Die Jugend ist verg. | aus getheilten Interessen; | das Alter ist verg. | aus Mangel an Interessen. 3, 99; Stein 1, 253; Weißt du, V–e, nicht mehr, | wie scharf ich da mich selbst bewachte. 1, 79; Ich V–er! Verzeihung! Kl. 3, 318; 2, 302 etc. —
b) mit Infin. und zu: Es ist sonst alle Welt zu laß und zu verg., die arme Jugend zu ziehen. 8, 356a etc. —
c) Nam. oft im Genit.t Sie hält sich kaum, | verg. der irdischen Schmerzen. 3, 186; Als kehrte der entfesselte Geist, verg. der Leiden, der Knechtsgestalt im Triumphe zurück. H. 1, 93; Ach, vielleicht umflattert eine Andre, | mein verg., dieses Schlangenherz. 5a; Seiner Menschlichkeit verg., | wagt des Mannes eitler Wahn, | mit Dämonen sich zu messen. 81b; Erst lebt ein dumpf Geschlecht, | verg. sein selbst. 356; Als etliche Amtleute ihres vorigen Herrns also verg. waren, daß sie geboten, die Unterthanen sollten nicht mehr von ihm reden. 1, 243 etc. —
d) in Zsstzg., z. B.: Der ehrvergeßne Mann. 6; Ehre-v. Il. 1, 159. — Der eid-v–e Mensch. — Die erdvergeßne Stimme der Gemüthlichkeit. 110. — Nun begann | mit einer Stirn von Erz der gottvergeßne Mann. D. 151. — Zeig nicht, wie heilvergeßne Pred’ger thun | den steilen Dornenweg zum Himmel Andern, | derweil .. er selbst den Blumenpfad der Lust betrat. Haml. 1, 3. — Dem naturvergeßnen Sohn der Schweiz, | der sich zu seinem [des Unterdrückers] Werkzeug machen kann. 533b. — Allzubald entreißt sich pflicht-v. | der Jüngling ihrer frommen Hut. — Ihr schwurvergeßnes Herz. Lieb. 122. — Tief in Demuth, selbst-v. 3, 321; 4, 92. — Einen treu-v–en Verräther. 979a. — War er dennoch un-v., dem Jüngling ein Pfand seiner Erkenntlichkeit zu geben. 5, 6; Er war in solchen Dingen un-v. und ließ es .. an Erinnerungen nicht fehlen. 39, 446; kanzleimäßig: Welche ich .. zu reciprocieren ohn-v. sein werde. Br. 1, 300, s. 11. — Ein bildschöner Knabe, der so welt-v. selig .. lächelte. Reis. 3, 99, aber auch (s. 11): Inhaltschwere Worte lässt der Greise | in dieser weltvergeßnen Wildnis hallen. 4, 54; SchV. 188 etc. — 13) zu 11 und 12: Die V–heit, das Vergessen (s. 9), das V.-Sein (aktiv und passiv), auch personif.: Ich bin der Denkstein der V–heit. 4, 3; Diese V–heit des eigenen Selbst. 7, 292; Verfließet, vielgeliebte Lieder, | zum Meere der V–heit. 1, 50; Wer jedoch schon beim dritten oder vierten Maß so arg in V–heit seiner selbst geräth, daß er Frau und Kinder verkennt. 26, 215; Diese Männer wurden in V–heit gerückt. L. 2, 133; Wenn Jemand .. aus V–heit den Hut .. auf dem Kopf behält.,Hebel 3, 313; Die V–heit seines Versprechens. 9, 212; Mein heiliger Lethe, woraus ich die V–heit des Daseins trank. H. 1, 104; Litt ich an V–heit, die aus Zerstreutheit entsprang. 1, 8; Der lange in V–heit begrabene Dichter. Bibl. 6, XXXIII; Daß auf die Stirne Beiden uns | V–heit die mohnbeträuften Finger legt. Woch. 125; Finstre V–heit| breitet die dunkelnachtenden Schwingen | über ganzen Geschlechtern aus. 491b; Daß .. soviel, was hervor du schufest | straflos umnagen, Lollius, frostige V–eiten. H. 1, 274; Ov. 2, 9; In das Grab der V–heit fallen. 5 etc. — So auch in Zsstzg. (s. 12d): Ehr-V–heit; Die Selbst-V–heit, | in der sie sitzen starr, wie Alabastersäulen. D. 353; H. 1, 20 etc. — 14) Zuw.: Der Vergesser. Od. 2, 228; 13, 150 mit der Fortbildung: Zweite Kindheit, ganz vergesserisch. Sh. 3, 60. — Ugw.: Vergessung.
Anm. Das Grundw. noch im Engl. vgl. get (erlangen) und forget (vergessen), wie im Goth. bigitan, ahd. gëzan, erlangen, mhd. nur noch er- und vergizze (vergesse), wozu als Faktitiv ergetze = ich mache vergessen, mache wett, entschädige für Etwas (vgl. ätzen, fretzen zu essen, fressen). — Über die gedehnten Formen: Du vergissest. 4, 229; 13, 76 (vgl. in der Prosa 34, 201: vergisst); Rost. 41a; Rep. 1, 62 etc.; er vergisset, s. Orth. 69. — Zuw. findet sich der Imperat.: Vergesse! 1, 241; 5, 46; 48; 1, 258; 2, 289.
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