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kahl
Kāhl, a.:
1) eig., ohne die normale, natürliche Bedeckung, z. B.:
a) von Pers., ohne hinreichende Haare an den Stellen, die mit Haaren bewachsen zu sein pflegen: Ein k–er Kopf oder eine k–e Platte (s. d.), Glatze; K. werden, die Kopfhaare verlieren; Was nützt dem K–n [Kahlkopf] ein Kamm?; Sich k. raufen, scheren, bei manchen Völkern Zeichen der Trauer, so biblisch 5. Mos. 14, 1; Jer. 16. 6; 48, 37; Hes. 7, 18; 27, 31; 29, 18; Gehe k. über deine zarten Kinder, mache dich gar k., wie ein Adler (b). Mich. 1, 16; Sich Kinn und Wangen k. scheren etc. An der Glatze oder da er k. ist. 3. Mos. 13, 42; Fasst bald des Knaben | lockige Unschuld, | bald auch den k–en | schuldigen Schestel. G. 2, 68; Sein jung-k–es Haupt. 21, 22; Die Gelegenheit hat nur an der Stirne Haar, hinten ist sie k. [die vorübergelaßne ist nicht mehr zu fassen]. Klinger F. 106 etc.
b) von Thieren, ohne hinreichende Haare, Federn etc., wie sie dieselben zur Bedeckung der Regel nach zu haben pflegen: Die Hinterbacken des Affen sind k.; K. wie ein Ratzenschwanz; Sie scheren dich so k. wie eine Ratze. HKleist Hint. 1, 156; Neugeborne Katzen, Ratzen, Mäuse etc. sind k. [haarlos], junge Vögel sind k. [federlos, s. kack]; In der Mause werden die Vögel k.; Einen Vogel k. rupfen, s. 2b; Der Pelz wird schon k., auch von dem abgezognen, vom Kürschner ver- arbeiteten, s. 2a.
c) von Bäumen etc., ohne hinreichende Blätter, ohne Laub: Sturm entblättert schon die Bäume | und sie schaun gespenstisch k. Heine Reis. 2, 306etc., zuw. auch: ohne Blüthen, Frucht etc.: Die Raupen haben den Baum k. gefressen; K–e, unfruchtbare Bäume. Judä 16; Wenn wir warten wollten, bis uns die großen Pächter des Staates zuriefen: „Jetzt pickt zu!“ kämen wir viel zu spät; denn sie hätten dann alle Bäume schon kahl geschüttelt. Börne 2, 135.
d) von Feldern, Wiesen, Bergen etc., ohne die gewöhnliche Pflanzendecke: Frischlich angefeuchtet steht der Fels umlaubt, | Kreuzes Panner leuchtet um das k–e Haupt. G. 6, 79; Dort senkt ein kahler Berg die glatten Wände nieder. Haller 41; Da .. so viele völlig kahle Äcker Landes wüste liegen. Kohl J. 1, 98 etc.
2) übertr.:
a) von Kunstprodukten, namentl. von Zeug, Kleiderstoffen, Kleidern: ohne hinreichende (Woll-) Haare etc. auf der Oberfläche, abgeschabt, abgetragen: Der Pelz (s. 1b), der Rock ist schon ziemlich kahl etc.
b) durch das Fehlen von Etwas, das zu einem Ggstd. als wesentlich oder der Regel nach gehörend angesehn wird, das Gefühl des Mangels, des Unbefriedigenden, Dessen, was nicht so ist, wie es sein soll, erregend, arm, ärmlich, armselig, erbärmlich etc., vgl. leer, nackt etc.: Eine Gans [dummes Mädchen] zu belügen und zu verführen, um Geld zu kriegen und dann hören zu müssen, die Gans sei k., gerupft! (s. 1b). Immermann M. 3, 438; Guter Wirth, wir sind so k. [ausgebeutelt] noch nicht, als wir scheinen. L. 1, 522 etc.; K–e [nichtige, leere, armselige] Ausreden, Ausflüchte, Entschuldigungen (Weidner 53 etc.), Verlegenheits- aushülfen (Devrient 1, 254); Jeder eiferte die k–en Umschweife zu vermeiden und grade auf das Ziel loszugehen. FHJacobi 5, 179; Gieb gegen meine Rechte, | Lysander, deinen k–en Anspruch auf. Schlegel Sommern. 1, 1; Dies sei kein k–es, loses Schwatzen. Heinr. IV 1, 1, 3; Einen stolzen und k–en Entscheider. L. 8, 11; K. bestehen, bei der Prüfung sich in seiner Armlichkeit und Nichtigkeit zeigen: Ich bin ganz beschämt, daß ich vor den Herren Hamburger Scholarchen so k. bestehen soll. L. (Guhrauer 2, Beil. 47) etc.; Wer sieht es diesen k–en [des nöthigen Schmuckszentbehrenden, ärmlichen] Wänden an, | daß eine Königin hier wohnt? Sch. 405b; Einige Möbel müssen noch in das Zimmer kommen, es sieht sonst so k. aus; Die Erzählung nimmt daher ein k–es Ende, der Hausfreund fühlt es, fast sollte er noch Etwas anschiften. Hebel 3, 430 etc.; Was ist ein Dintenjunker? | ein Reicher ohne Geld, ein k–er Straßenjunker [dem es an dem Wesentlichsten fehlt]. Rachel 4, 234; Einen k., mit einem k–en Schöndank (W. 21, 199) abfinden; Eine k–e [ärmliche] Bewirthung; Die Blöden pflegt man k. zu traktieren. Sprchw., z. B. Zinkgräf 1, 248; Empfing ein wenig kalt und k. | die späten schwarzen Gäste. Langbein 1, 254; Meine Thatenlust fand k–e Nahrung. Hölderlin H. 2, 87; So k. [arm] wie eine Kirchenmaus; Standhaft bei dem k–en Glück des bettelhaften Pisanio ausgehalten. Tieck Cymb. 3, 5 etc. Zuw. auch wie ,,arm“ (s. d. II1) mit abhängigem „am“: Wär’ aber eben auch der Weiber größte Zahl | an Lastern noch so reich, an Tugend noch so k. W. 20, 163 etc.
c) Schiff.: K–es Schiff, ohne Takelage; K–e Rah, ohne Segel und Tauwerk; K–er Bug, ohne Anker etc.
d) Hüttenw.: Die Metalle gehen k., werden ohne Zuschlag von Schlacken geschmolzen, namentl. beim Kupferfrischen.
e) weidm.: K–e Thiere, Schmalthiere (s. d.), wohl wie Dies das Kleine, Geringe, Armliche (s. b) bezeichnend.
Anm. Ahd. chalo (Gen. chalawes), mhd. kal (Gen. kalwes), vgl. lat. calvus und fahl und falb, dazu ahd. chalawî, chalwe, kalawa, mhd. kalwe, kelwe, kalheit, Kahlheit, ferner „kolben“, kahl scheren. Schm., s. Kolbe 19.
Zsstzg., wobei das Bstw. theils dem ,,an“ (s. 2b) entspricht, z. B.: Tugend-k., theils den Grund der Kahlheit angiebt: Ein alter-, ein sünden-k–es Haupt, durch Sünden eines ausschweifenden Lebens kahl etc., ferner verstärkend: War Alles ratzen-k. weggefressen. Ruge Rev. 1, 168; Sie treten Ihrem Gutsherrn doch zu nahe, wenn Sie ihn für ratzen-k. [2b] halten. Holtei Nobl. 2, 251; Die Scheitel ratzen-k. dir abzuscheren. HKleist Hint. 140 etc., wohl = k. wie ein Ratzenschwanz, mundartl. auch: rupps-k. Frommann 5, 191 etc. und „katzen-k., s. Herrig 21, 59.